1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Er weinte beinahe vor Erleichterung, als er in den kleinen Ort fuhr und mitten in der Stadt anhielt. Menschen, die rechts und links auf den Bürgersteigen spazierten, blieben stehen und starrten ihn an. Luke stieg ächzend aus dem Wagen und verrenkte sich dabei beinahe die Hüfte. Verdammt, wie war er vor drei Monaten nur in das winzige Gefährt hineingekommen?
Er eilte auf eine Frau zu, die ein schwarzes Trägerkleid und eine weiße Bluse darunter trug. Sie sah ihn gebieterisch und kalt an. Noch bevor er nur in ihrer Nähe war, stellte sich eine andere Frau mutig davor, obwohl sie einen kleinen Jungen an der Hand hielt. Sie trug ein Sommerkleid, aber in Grau. Auch der Junge trug eine graue Hose und ein weißes T-Shirt.
„Was wollen Sie“, verlangte die Frau im grauen Kleid zu wissen. Luke bemerkte verwirrt, dass alle Menschen auf den Bürgersteigen angehalten hatten. Auch aus den kleinen Läden kamen Frauen und Männer, und auch aus dem nur mittelgroßen Supermarkt strömten sie heraus. Alle trugen entweder graue oder schwarze Kleidung mit etwas Weißem kombiniert. Die in Grau traten jedoch sofort respektvoll beiseite, wenn jemand in Schwarz in ihre Nähe kam.
„Ich brauche ein Telefon. Oder am besten Sie sagen mir, wie ich zur Polizei komme.“
„Polizei?“ Die Frau öffnete den Mund zu einem abscheulichen Barrakuda-Lächeln, das Luke fatal an Samira erinnerte.
„Ja, die Polizei. Ich wurde als Geisel gehalten. In einem Haus hier ganz in der Nähe.“ Luke wunderte sich, als die Leute um ihn herum plötzlich beinahe unisono ein erleichtertes Seufzen ausstießen und sich entspannten. Manche lächelten ihn sogar an. Die Frau in Schwarz schob die schützend vor ihr stehende energisch beiseite. Sofort verneigte sich die in Grau – und ihr kleiner Sohn tat es ihr sofort nach – und gab den Weg frei.
Luke sah die Frau in Schwarz an. Auch die lächelte, kalt und herzlos. Sie war blond und völlig unscheinbar, sie benutzte nicht mal Make-up und trug das Haar in einem schlichten, unmodernen und strengen Knoten. Er ließ sie aussehen wie vierzig, aber sie schien eher Mitte zwanzig zu sein.
„Ich bin Sandra Sun ... Hart. Mein Großvater ist der … der Bürgermeister dieser Stadt. Ich kenne dieses Auto. Was sagten Sie gerade, Sie wurden als Geisel gehalten?“
Luke schluckte. Ihm schien es, als sei er vom Regen in die Traufe geraten. Sandra wechselte ihren altmodischen Flechtkorb mit den Einkäufen in die andere Hand. Das Trägerkleid erinnerte von der Strenge und dem hochgeschlossenen Kragen an die Kleidung einer Amish-Frau, aber die Kälte und der gebieterische Blick wollten so überhaupt nicht dazu passen. Irgendetwas war hier merkwürdig. Aber es umstanden ihn mindestens fünfzig Leute, und die in Grau waren während des Gesprächs zwischen ihm und Sandra unauffällig näher gekommen. Er konnte nirgendwohin flüchten. Vor Samiras Auto lauerten mindestens zehn Männer in grauen Hosen.
„Äh, ja, wurde ich“, stammelte Luke nun nervös und warf ängstliche Blicke nach rechts und links. Er hatte so etwas mal in einem Film gesehen oder in einem Buch gelesen: Immer, wenn er nicht hinsah, rückten diese Leute anscheinend näher, ohne dass er die Bewegung irgendwie wahrgenommen hätte.
„Dann sollten wir meinen Großvater sofort benachrichtigen.“ Sandra tat etwas, das so lächerlich schien, dass Luke beinahe laut losgelacht hätte: Sie zog ein hochmodernes Handy aus der Tasche ihres Kleides, das man nach einem Muster von anno dunnemals zusammengeschneidert hatte.
„Das wird nicht nötig sein. Ich kenne ihn.“ Alle wandten sich um, als die Stimme ertönte. Luke wurde beinahe übel vor Erleichterung, dann aber fiel ihm das unheimliche Gespräch zwischen Samira und dem jungen Mann, der sich jetzt durch die Menge schob, wieder ein: William. Sandras Augen leuchteten auf und ihre Wangen röteten sich.
„William! Oh, du kennst ihn also …?“
„Ja, ich habe ihn bei Samira getroffen.“ Ein Murmeln ging durch die Menge.
Sandra kicherte. „Dann ist er der Erste, der ihr entkommen ist! Das wird ihr ja gar nicht gefallen!“ Alle um sie herum brachen in schallendes, hämisches Gelächter aus. Luke spürte, wie sein Magen sich verkrampfte. Er hätte einfach weiterfahren sollen. Jetzt saß er tief in der Scheiße. Die Menschen verfolgten jede seiner Bewegungen und der Ring um ihn herum war beinahe undurchdringlich geworden. Gierige Blicke trafen ihn, die er nicht verstand. Aber die Augen entbehrten zwei Dinge völlig: Mitgefühl und geistige Gesundheit. Sogar bei den Kindern. Ihn schauderte es heftig.
„Wir sollten ihn zu ihr zurückbringen“, schlug William nun vor, „ich habe einen Deal mit Samira gemacht, der deinem Großvater gefallen dürfte.“
„Oh, wirklich? In dem Fall …“ Sandra strahlte ihn an. Unter den Schwarzgewandeten erhob sich unzufriedenes Gemurmel. Scheinbar fanden sie es nicht gut, dass Sandra so offensichtlich in William verliebt war.
William wandte sich um und kam wenig später mit einem klappernden Kastenwagen zurück. Er lehnte sich aus dem Fenster und sah Luke an. „Einsteigen“, befahl er kalt. Luke sah die anderen an. Die kamen drohend noch einen Schritt auf ihn zu. Er konnte schon die Wärme ihrer Körper fühlen und sah, wie sie die Zähne fletschten wie Raubtiere.
Luke kletterte auf die Ladefläche und beschloss, gleich nach der Stadt abzuspringen. Selbst wenn er sich dabei ein Bein brach, was machte das schon? Sein Herz sank ihm in die Schuhe, als hinter ihm fünfzehn graugewandete Männer aufstiegen. Einer von ihnen rief etwas zu einem der Ladenbesitzer herüber, woraufhin der in seinen Verkaufsraum stürzte und wenig später mit einem Seil zurückkam. Sie fesselten Luke die Arme auf den Rücken. Dann zogen sie das Seil noch durch ein paar Ösen, die sonst der Befestigung der Ladung dienten, und banden ihn dicht am Boden fest. Sie gingen kein Risiko ein.
Die Karre setzte sich schaukelnd in Bewegung. Hinter ihnen stieg eine der Frauen in Schwarz in Samiras Auto und fuhr hinterher.
Zwanzig Minuten später, in denen die Männer um Luke herum fröhlich gelacht und geschwatzt hatten, bog der Konvoi in Samiras Einfahrt ab. Luke wurde hoch gezerrt und von der Ladefläche gestoßen. Unsanft fiel er in Samiras Rosenbeet und die Dornen stachen ihm schmerzhaft ins Gesicht und zerfetzten sein Hemd.
Zwei Graue rissen ihn wieder hoch und schubsten ihn zurück in das Hexenhaus, das so nett aussah, aber so ein grässliches Geheimnis barg.
„Hey, Samira!“, rief William. Bald darauf hörte man schwankende, unsichere Schritte auf der Treppe. Samira kam herunter und hielt sich mit einer Hand krampfhaft am Geländer fest, mit der anderen stützte sie sich an der Wand ab. Sie war sehr bleich und hatte dunkle Ringe unter den trüben, halb geschlossenen Augen. Sie stöhnte. Als sie Luke sah, funkelten Wut, Erleichterung und Triumph in ihrem Blick.
„Ah! Da ist er ja!“ Mühsam beschleunigte sie, und als sie endlich unten angekommen war, versetzte sie dem aus winzigen Dornenwunden blutenden Luke eine schallende Ohrfeige. Die Männer lachten.
„Er lief uns direkt in die Arme. Ich hoffe, dass du uns deine Unterstützung zukommen lassen wirst bei der Suche nach Chris …?“
Wütend sah Samira William an, aber der hatte unerbittlich die Arme verschränkt. „Wenn wir ihn dir nicht wiedergebracht hätten, wären jetzt die Cops hier. Er war schon fast auf dem Weg nach Meddington. Das wäre dein Ende gewesen.“
„Wenn ich meine Schwestern verrate, ist das erst recht mein Ende“, keifte sie zurück, aber mit wenig Überzeugung. Sie wusste, sie schuldete den Graugewandeten viel.
„Du musst uns ja nicht direkt zu ihm bringen … aber ich weiß, ein paar von uns sind zu ihm geflohen, ein paar Abtrünnige. Sind sie bei ihm aufgenommen worden? Mehr muss ich gar nicht wissen.“
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