Noala trauerte Farik nach, den sie richtig lieb gewonnen hatte. Gleichzeitig schämte sie sich, dass sie Bessara nicht gefragt hatte, was denn Kerlak mit ihr trieb.
Merit ging es ähnlich. Sie hatte ein schlechtes Gewissen wegen Bessara. Wenn sie doch nur gewusst hätte, wie schlecht es ihrer Freundin ging. Aber was hätte sie schon tun können, als Dienerin? Bestimmt hätte sie es Shokar mitgeteilt. Vielleicht hätte er etwas unternehmen können.
Shokar! Wenn man herausfand, wie sehr sie sich zugetan waren! Dann würde man auch sie trennen! Das durfte auf keinen Fall geschehen!
Merit murmelte etwas Unverständliches. Mit traurigem Blick wandte sie sich ab und trug ihr Tablett zu Shokars Unterkunft.
Shokar war schon da. Als er ihre verstörte Miene sah, verzichtete er darauf zu fragen, warum sie nicht früher gekommen war. Er nötigte Merit, sich zu setzen und wollte wissen, was los war. Stockend begann Merit zu erzählen.
Anschließend fing er an, auf und ab zu gehen, um besser nachdenken zu können, wobei er sich immer wieder mit einer Hand über den rasierten Kopf fuhr. Damit versetzte er allerdings Merit in Unruhe. Sie befürchtete, dass er sich nun zurückziehen könnte.
Als Shokar ihr kurz ins Gesicht blickte, sah er, wie verzweifelt sie war. Sofort eilte er zu ihr hin und zog sie in seine Arme.
„Sei ganz ruhig, noch ist für uns nichts verloren. Wir müssen nur noch viel vorsichtiger sein als bisher. Keiner darf wissen, dass wir uns lieben. Wir werden den Anschein wahren, auf den sie hier so sehr Wert legen.“
Merit war erleichtert. Shokar hatte nicht vor, sie aufzugeben. Er hatte sogar von Liebe gesprochen. Shokar zog sie zum Lager. Sie stürzten sich mit der Leidenschaft der Verzweiflung aufeinander. Alle Vorsicht war vergessen. Das Abendmahl blieb unberührt.
Unterdessen waren die Priester zu einem Ergebnis ihrer Beratungen gekommen.
Es gab im Tempel eine ältere Dienerin, Mesut, die man nicht fortgeschickt hatte, als ihr viele der Aufgaben zu anstrengend wurden. Sie war dazu eingeteilt, die Plätze vor den Tempelgebäuden zu fegen. So konnte sie eine sinnvolle Aufgabe erfüllen. Angesichts des vielen Sandes, der ständig durch den leichten Wind herangeweht wurde, konnte sie ihre Aufgabe auch nie beenden. Damit war sie ständig beschäftigt.
Mesut sollte nun den beiden Anwärtern Farik und Kerlak das Essen bringen und ihre Räume sauber halten. Die anderen Dienerinnen würden das Essen zubereiten und die gebrachte Kleidung reinigen.
Nur Merit würde weiterhin als persönliche Dienerin Shokars tätig sein, da es bisher keine Anzeichen für ein Fehlverhalten gegeben hatte. Man wollte allerdings ein strenges Auge auf die Beiden richten, um sofort einschreiten zu können, wenn etwas nicht in Ordnung sein sollte.
Sunit, Kerlaks Lehrer, begab sich zu seinem Schützling. Er machte ihm klar, dass man von seinem Fehlverhalten zutiefst enttäuscht war. Es hatte auf der Kippe gestanden, ob man ihn aus dem Tempel ausschließen würde. Man wollte ihm jedoch eine Möglichkeit geben, sich zu ändern. Bei der nächsten Verfehlung, sei sie auch noch so gering, würde Kerlak den Tempel verlassen müssen. Es war ihm nicht gestattet, sich einer Dienerin zu nähern. Er musste zeigen, dass er sich unter Kontrolle hatte. Sonst war er als Priester ungeeignet.
Kerlak war bestürzt, dass es bekannt war, wie er Bessara behandelt hatte. Warum machten sie bloß so viel Aufhebens um eine Dienerin? Dennoch, nach Hause zurück konnte er nicht, sein Vater hätte ihn wegen dieser Schmach aus dem Haus geprügelt, oder ihm Schlimmeres angetan. Deshalb versprach er eilig, sein Verhalten zu bessern und alles zu tun, was man von ihm erwartete.
Sunit verfolgte seine Äußerungen mit Misstrauen. Er nahm ihm diesen neuen Eifer nicht ab. Jemand, der zuvor so verwerflich gehandelt hatte, würde sich nicht schlagartig ändern. Sunit würde Kerlak unter strenger Beobachtung halten.
Sunit seufzte. Drei Anwärter hatte es in diesem Jahr gegeben. Nun hatten bereits zwei davon eine Schwäche gezeigt. Aber standen sie nicht alle erst am Anfang ihrer Ausbildung? Man musste sie eben erst formen, sich entwickeln lassen. Das war die Aufgabe der Lehrer.
Eines Tages, als Stephen zu Kayla kam, fand er eine fremde Frau dort vor. Sie war ungefähr in Kaylas Alter, gleich groß, aber mit mehr Gewicht als Kayla. Sie hatte kürzeres blondes Haar. Kayla stellte sie als ihre Freundin Liz Carmaine vor. Sie war eine verwandte Seele, wie Kayla sagte. Stephen fand, sie sah freundlich aus.
Liz war gerade dabei zu gehen. „Genießt den Nachmittag“, sagte sie und umarmte Kayla.
Nachdem sie gegangen war, sah Stephen verwirrt aus.
„Was beschäftigt dich? Spuck es aus!“, verlangte Kayla.
„Wegen dieser Frau, Liz …“ Stephen wusste nicht, wie er es sagen sollte, ohne unhöflich zu sein.
„Ja, sie ist meine beste Freundin. Ich kann über alles mit ihr reden.“ Kayla wusste genau, worüber Stephen beunruhigt war. Deshalb hatte sie diese Worte gewählt.
„Sie schien zu wissen, was ich hier tue. Hast du mit ihr über mich gesprochen?“ Stephen hoffte, Kayla wäre nicht verärgert.
„Du versuchst, mich zu fragen, ob ich über dich geredet habe. Natürlich musst du die Antwort wissen.“ Kaylas Stimme war immer noch freundlich.
„Liz weiß, dass ich dir Meditationstechniken beibringe und dass du mir im Haus hilfst. Sie weiß nicht, welche Meditationen wir durchführen oder welche Probleme du hast. Du kannst sicher sein, dass ich deine Privatsphäre respektiere. Liz ist selbst eine erfahrene Meditationslehrerin. Über unsere Schüler reden wir nicht. Wir plaudern keine Geheimnisse aus.“
Soweit stimmte Kaylas Aussage. Doch sie war nicht völlig aufrichtig gewesen. Schließlich wusste Liz etwas über Stephen, das ihm selbst noch nicht bekannt war. Aber sie konnte darüber mit ihm noch nicht reden. Und sie hatte es in einer eigenen Meditation erst selbst erfahren. Aber mit Liz hatte sie darüber gesprochen.
Stephen war erleichtert. „Tut mir leid, dass ich gefragt habe. Aber ich musste es einfach wissen.“
„Besser wir sprechen über diese Dinge, als dass sie uns beunruhigen. Das könnte mentale Barrieren aufbauen, die wir dann in den Meditationen wieder entfernen müssen. Das würde uns so sehr beschäftigen, dass wir die wichtigen Dinge nicht erledigen könnten.“
„Also, was sind die wichtigen Dinge für heute?“, fragte Stephen.
Kayla wusste, er hatte die Idee mit der Rückerinnerung nicht aufgegeben. Er hoffte immer noch, dass er in der Zwischenzeit genügend Techniken erlernt hatte, um sie durchführen zu können. Er strengte sich sehr an, Kayla nicht ständig an seinen Wunsch zu erinnern. Er wollte geduldig sein, bis Kayla ihre Erlaubnis dazu gab. Aber die Möglichkeit, dies zu tun, faszinierte ihn. Es war, als ob er an einem Seil hing, das ihn ständig in diese Richtung zog.
Kayla erkannte, dass es an der Zeit war. Er kannte genügend Grundtechniken, um sich weiter zu helfen, wenn die Dinge schwierig wurden. Kayla fand keinen Grund mehr, die Sache weiter hinauszuzögern. Sie würde in den Meditationen über ihn wachen, egal, welche Situationen sich ergeben mochten. Sie wusste Bescheid über das, was kommen konnte.
An wie viel würde Stephen sich erinnern? Sie durfte ihm keine Hinweise geben. Er musste es allein herausfinden. Auf jeden Fall würde es eine Menge zwischen ihnen beiden verändern. Würde er damit fertig werden?
Dennoch war es sein größter Wunsch und sicherlich war es der Grund dafür, dass sie sich überhaupt begegnet waren. Stephen sah sie immer noch geduldig an. Er wusste, dass er nichts erzwingen konnte. Er konnte Kayla nie zu etwas überreden, das sie nicht tun wollte.
Stephen hatte dies zuvor schon bei mehreren Gelegenheiten ausprobiert, in sehr subtiler Weise, wie er dachte. Doch er hatte nie Erfolg damit gehabt. Wie es schein, waren seine Versuche nie subtil genug gewesen. Sie hatte immer gewusst, was er gerade versuchte und sorgfältig die Klippen umschifft.
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