Stephen hatte bisher in einer sehr realistischen Welt gelebt. Was man sehen konnte, war Wirklichkeit. Alles andere gehörte ins Reich der Fantasie. Man konnte Filme darüber machen, aber mit der Wirklichkeit hatte dies nichts zu tun.
Nur, seit er Kayla kannte, wurde diese Überzeugung oft erschüttert. Gelegentlich sagte sie Dinge, bei denen er erst überlegen musste, ob er das für wahr halten konnte. Wenn er dann darüber nachdachte, musste er zumindest die Möglichkeit einräumen, dass es derartige Dinge geben könnte. In Kaylas Nähe tat sich für ihn eine völlig neue Welt auf. Manchmal war es wirklich seltsam, wie sie herausfand, was er gerade dachte. Aber er sorgte sich nicht darum.
Kayla war genau die richtige Lehrerin für ihn. Und sie wurde eine Freundin, die er sehr mochte. Seltsam, dass sie genau dann in sein Leben getreten war, als er seine Mutter verloren hatte. Er erfüllte seinen Teil der Abmachung, indem er Dinge im Haus reparierte. Es fiel ihm auf, dass er sich unter der Woche darauf freute, jeden Samstag in Kaylas Haus zu sein.
Es war wie nach Hause zu kommen. Sie tranken zuerst Tee zusammen und redeten über ihre Woche. Dann gab es Meditationen und später reparierte er etwas. Meistens musste er nicht lange suchen, bis er etwas fand, dem er seine Aufmerksamkeit widmen konnte. Oft sah er im Garten nach, ob es etwas zu richten gab. Kayla ließ ihn meist selbst Vorschläge machen, worum er sich kümmern wollte.
Sie lebte in einem kleinen alleinstehenden Häuschen am Rande der Großstadt. Dem Garten, der sich rundherum erstreckte, sah man ihre liebevolle Hand an. Zu jeder Jahreszeit blühten viele Blumen, wodurch auch das Haus ein freundliches Aussehen erhielt. Mehrere Beete mit Heilpflanzen und Küchenkräutern ergänzten das Bild. Unter einem Lindenbaum im hinteren Bereich stand eine Gartenbank aus Holz. Davor breitete sich eine Rasenfläche aus.
Kayla gab ihm häufig Aufgaben, Meditationen, die er während der Woche durchführen sollte. Sie halfen ihm, seine Rollen noch besser zu spielen, weil sie seine Konzentration lange Zeit aufrecht hielten. Er ermüdete nicht so schnell, weil er wusste, wie er wieder Kraft tanken konnte, sogar in den Drehpausen, wenn er nur wenig Zeit hatte.
Stephen hätte zuvor nie geglaubt, in seinem Inneren ein Kraftzentrum zu besitzen, das er nutzen konnte. Durch die Meditationen, die er lernte, erhielt er Zugriff darauf. Wenn seine Konzentration gestört war, genügten einige Minuten der inneren Versenkung, um alles Störende beiseite zu schieben und nur noch das Wesentliche zu beachten.
Er liebte seinen Job. Jeder konnte das in den Rollen sehen, die er spielte. Schauspieler zu sein war alles, was er jemals gewollte hatte und jetzt tat er das aus ganzem Herzen.
Kapitel 7 – Merit und Shokar
Merit begann, sich auf die Abende zu freuen, wenn Shokar von seinen Unterweisungen zurückkehrte. Es war ihm streng verboten, darüber zu reden, noch nicht einmal mit den anderen Anwärtern. Die Schüler sollten damit lernen, absolutes Stillschweigen zu bewahren.
Deshalb konnte Shokar nichts von seinem Tagesablauf an Merit weiter geben. Dennoch ergab sich genügend Gesprächsstoff. Er berichtete gern über das Zusammenleben mit seiner Familie. Wie Merit schon vermutet hatte, vermisste er sie sehr. Das war nicht das Verhalten, das von einem Anwärter erwartet wurde, doch Merit schätzte ihn deshalb umso mehr.
Merit weigerte sich lange Zeit, mit Shokar gemeinsam zu essen. Als Dienerin sollte sie ihren Herrn unterhalten, während dieser seine Mahlzeit einnahm. Weil aber Shokar nicht nachgab, begann sie endlich, kleine Happen zu essen, damit er Ruhe gab. Niemand sah ihnen zu, deshalb war es wohl nicht so schlimm, wenn sie die Grenzen übertrat.
Shokar behandelte sie immer weniger wie eine Dienerin. Sie war seine Vertraute, seine Geliebte. Schließlich musste er sich eingestehen, dass er sich in sie verliebt hatte. Nach dem Willen der Priester war das jedoch streng verboten. Deshalb würde er ganz gewiss nicht darüber reden. Man würde ihm Merit sonst bestimmt wegnehmen. Schon der Gedanke daran war schrecklich. Er wollte nicht mehr ohne sie sein.
Merit hatte sich schon nach der ersten Nacht in Shokar verliebt. Auch sie wusste um die Gefahr, falls dies offenbar werden sollte. Aus diesem Grund blieb dieses Thema in ihren Gesprächen ausgespart. Sie genossen ihre gemeinsamen Nächte und lebten einfach in den Tag hinein.
Eines Tages kam Noala weinend zur Kochstelle gelaufen. Die Priester hatten entdeckt, dass sie und Farik Gefühle für einander hatten. Deshalb beschloss man, sie zu trennen. Noala durfte nicht mehr für Farik sorgen und es war ihr verboten, ihn zu sehen. Noala war verzweifelt. Bessara und Merit taten ihr Möglichstes, um sie zu trösten. Aber auch sie wussten keinen Rat.
Bessara meinte nur: „In meinem Fall hätte ich nichts dagegen, von diesem Grobian Kerlak getrennt zu werden. Er fühlt sich nur selbst gut, wenn er anderen seine Macht zeigen kann. Und das kann er am besten, wenn er jemandem Schmerzen zufügen kann.“
Die Mädchen sahen nicht, dass sich Fariks Lehrer Julak unbemerkt genähert hatte. Er wollte Noala zu einem anderen Dienst im Tempel einteilen, wo sie Farik nicht sehen würde. Die letzten Worte von Bessara hatte er gehört.
Er trat zum Feuer, woraufhin die Dienerinnen ihn endlich entdeckten und erschrocken verstummten. Noch nie war einer der Priester hierhergekommen. Daher hatten sie sich immer sicher gefühlt und deshalb sehr frei gesprochen.
Julak blieb zuerst stumm. Er war mit seinen Gedanken beschäftigt. Sollte es ein Fehler gewesen sein, jedem Anwärter eine persönliche Dienerin zuzugestehen? So, wie es gerade lief, war es nicht geplant gewesen.
Man wusste doch um die Entwicklung junger Männer. Von ihnen zu verlangen, dass sie sich in Enthaltsamkeit übten, hielt man für unmenschlich. Erst wenn ein Anwärter zum Priester geweiht wurde, begann man ihm Enthaltsamkeit nahezulegen. Man glaubte, so könne man die Rituale besser durchführen. Wenn ein Priester wusste, worauf er verzichtete, war dieses Opfer umso mehr wert.
Doch nicht alle Priester folgten diesem Vorschlag. Es lag in der Verantwortung jedes Einzelnen.
Das Beispiel von Farik und Noala zeigte aber auch, dass man ungebührliches Verhalten geradezu gefördert hatte. Und wenn Kerlak tatsächlich seine Dienerin benutzte, um Macht und Gewalt auszuüben, war dies ebenfalls ein Verhalten, das auf keinen Fall geduldet werden konnte. Die Einzigen, die ihre Aufgabe anscheinend so erledigten, wie sie gedacht war, waren Shokar und seine Dienerin.
Hätte Julak gewusst, wie sehr er falsch lag mit seiner Vermutung, wäre er bestürzt gewesen. Doch bisher gab es keine Beweise für ein Fehlverhalten.
Er begann zu sprechen und wies zunächst Noala eine neue Aufgabe zu. Noala nickte zaghaft, froh darüber, dass man sie nicht ganz aus dem Tempel entfernt hatte.
Als nächstes rief Julak Bessara zu sich. Er betrachtete die blauen Flecke auf den Armen, die ein unterschiedliches Heilungsstadium aufwiesen und damit anzeigten, dass nicht nur ein einzelnes Fehlverhalten Kerlaks vorlag. Dann wies er sie an, ihre Tunika abzulegen. Hier waren die Verletzungen noch viel schlimmer. Kerlak hatte offenbar darauf geachtet, dass man so wenig wie möglich sah.
Die Mädchen schnappten beim Anblick der großen blauen Male an Bauch und Rücken erschrocken nach Luft. Bessara hatte nie gesagt, wie schwer ihre Verletzungen waren.
Bessara durfte sich wieder ankleiden.
„Du wirst nicht mehr zu Kerlak gehen. Wenn ihm Essen gebracht werden muss, wird es in Zukunft vor seiner Tür abgestellt. Niemand von euch reinigt sein Zimmer.“
Julak verließ die Kochstelle, um sich mit den anderen Priestern zu beraten. Er ließ drei junge Frauen zurück, die jede aus einem anderen Grund zutiefst verstört waren. Deshalb war es ihnen auch nicht möglich, sich richtig auszusprechen. Jede war mit den eigenen Gedanken beschäftigt.
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