Ich weidete mich am Mienenspiel meines Liegestuhlnachbarn, für den augenscheinlich eine Welt zusammenbrach, und was aus Richtung Anna herüber blitzte, übersah ich einfach. Die Sonne trat gerade hinter einer Wolke hervor, und ich genoss ihre bräunende Wärme, ich genoss sie ebenso wie die Sekunden des Schweigens. Der Dicke guckte wie ein Ministrant beim Hochamt, nachdem gerade der Pfarrer mit der Flasche Messwein durchgebrannt ist. Er sagte immer noch nichts.
„Den Rest“, fuhr ich fort, „den wirklich unvermeidlichen aktuellen Rest, solche Stücke also, die am Tage geschrieben werden müssen - die knobeln die Ressortleiter dann untereinander aus, entweder mit
Streichholzziehen oder per Münzwurf. Wer gewinnt, ist raus und braucht nicht zu schreiben, und wer am Ende übrigbleibt, muss ran. Das machen wir möglichst kurz vor Redaktionsschluss, damit der Zeitdruck größer ist. Es ist nämlich immer schlecht, wenn man beim Schreiben eines Kommentars zu viel nachdenkt. Immer locker aus der Hüfte, so ist es am besten. Langes Nachdenken ist der Feind jedes guten Textes.“
Ich erhob mich und entschuldigte mich damit, dass ich mal kurz in unsere Wohnung müsse, um etwas zu erledigen. Ohne einen Blick zurück oder nach links und rechts zu werfen, ging ich davon.
Ich wollte gar nicht genau wissen, wie er jetzt guckte, es interessierte mich ungefähr so sehr, als würde in Taiyuan ein Fahrrad umfallen. In einer Stadt dieses Namens war ich einmal, um in dem üblichen Journalistentross den Wirtschaftsminister eines deutschen Bundeslandes zu begleiten und zufällig mitzuerleben, wie bundesdeutsche Wirtschaftsminister der bundesdeutschen Wirtschaft im neokapitalistischen, kommunistischen Rotchina ein Entree verschaffen. Es war, ehrlich gesagt, eine niederschmetternde Erfahrung, und weshalb mir ausgerechnet dies jetzt einfiel, wüsste ich nicht einmal zu sagen.
Der Großraum Taiyuan hat schätzungsweise sechs Millionen Einwohner, fast doppelt so viele wie Berlin. Aber ich habe in Berlin noch nie einen Menschen getroffen, der je etwas von Taiyuan gehört hat, und außerhalb von Berlin auch nicht. Als ich dort war, saßen sich einen Nachmittag lang eine deutsche und eine chinesische Delegation an einem langen Tisch gegenüber, und ich durfte dabei sein. Man servierte grünen Tee, von dem ich müde wurde - ebenso wie von dem monotonen Gemurmel der Dolmetscher. Es gab einen chinesischen und einen deutschen Dolmetscher, und alles wurde doppelt übersetzt. Es gab einen sehr langen chinesischen Monolog, den ich folglich zweimal anhören musste, und ich kämpfte mannhaft gegen mein Schlafbedürfnis, zumal in China gerade eine Hitzewelle tobte, was man unter anderem daran bemerken konnte, dass die Leute nachts auf den Bürgersteigen schliefen, weil es ihnen in ihren Käfigbatterien von Wohnblocks zu heiß wurde. Einmal stolperte ich abends über mindestens zwei Dutzend schlafende Chinesen, aber das war in Nangking, wo es noch heißer war, ich dachte erst, es sei eine
Seuche ausgebrochen. Und in Peking sah ich auf dem Platz des sogenannten Himmlischen Friedens, wie Polizisten ein paar Menschen einkassierten, sie schubsten sie in olivfarbene Lieferwagen, durch die Hecktür.
Ich dachte mir nicht viel dabei, aber ein Jahr später sah ich dann im Fernsehen, wie die Panzer rollten, und bei der Zeitung hatten wir alle wieder einmal das Gefühl, dass dieser Sommer 1989 es in sich hatte.
Diese unterbewusste Gedankenverbindung war es wahrscheinlich auch, die mich jetzt, während dieses unerfreulichen Urlaubs in Mecklenburg-Vorpommern, wieder auf Taiyuan brachte - das Wissen um die ganze Härte des Lebens drang da empor aus den tieferen Hirnschichten. Damals, im Sommer des himmlischen Blutbads, hatte ich sozusagen retrospektiv eine gewisse Genugtuung darüber empfunden, dass ich mit meinen Aversionen gegen dieses Land nicht völlig falsch gelegen hatte. Wahrscheinlich haben die Pekinger Polizisten die Leute, die sie im Sommer 1988 in die Lieferwagen schubsten, auch schon hinter der nächsten Ecke massakriert, dachte ich später.
Mir gefiel das alles nicht, und die chinesische Politik der Öffnung, die so viele Leute beeindruckte, konnte mir gestohlen bleiben. Die Chinesen aßen Hunde und rülpsten bei Tisch, und sie führten Peking-Opern auf, bei denen man nicht in Ruhe schlafen konnte, weil jemand plötzlich auf einen Gong schlug. Als sich dann zeigte, dass sie auch Ihresgleichen mit Panzern totfuhren, wunderte mich das kaum.
Aus einer Haltung des vorausschauenden Protests, wenn man so will, nahm ich auf dieser Reise diverse Gegenstände aus den Hotels mit: einen weißen Bademantel mit der englischen Aufschrift „Great Wall“, dann eine Seifenschale mit goldenem Rand und Drachenmuster, ein Wandbild, auf dem eine Landschaft mit einem gelben See und drei oder vier zerrupften Tannen sowie ein exotischer Vogel zu sehen waren, ferner zwei Garnituren Essstäbchen. Kurz vor dem Rückflug, in der Cafeteria des Flughafens, steckte ich noch unter den Augen irgendwelchen Wachpersonals - wie ich mir einbildete - einen Löffel und einen Aschenbecher ein.
Anna schien befremdet, als ich zu Hause diese Souvenirs auspackte und ihr weiszumachen versuchte, ich hätte all das Zeug gekauft. Und als ich mit der Wahrheit herausrückte, fand sie das auch nicht viel komischer. Ein Jahr später sah sie es mit etwas anderen Augen, und ich nahm den ganzen Plunder und stopfte ihn in den Mülleimer.
Bei dieser Wirtschaftsdelegationskonferenz war es übrigens so, dass der chinesische Monolog aus einer Aufzählung von Kooperationsgeschäften bestand, von Kraftwerken über Autofabriken und Stahlwerken über Straßenbau und Chemieindustrie bis hin zu U-Bahn-Projekten, und die Augen der netten Herren in Begleitung jenes Wirtschaftsministers, der mich aufgrund der Tatsache, dass ich bei der größten Zeitung jenes Bundeslandes beschäftigt war, in dem er Minister war, als einzigen Journalisten mit zu diesem speziellen Termin genommen hatten, begannen zu leuchten. Die Pointe war dummer Weise die, dass all die aufgelisteten Vorhaben bereits unter Dach und Fach waren, und zwar in Kooperation mit Schweden und Italienern, Franzosen und Amerikanern, Australiern und Kanadiern - mit dem Ergebnis, dass für die verehrten deutschen Gäste leider gar nichts übrigblieb. Ich hatte einen Abend und eine halbe Nacht zu tun, um den Minister zu trösten. Wir tranken Maotai, den stärkeren, der etwa 75 Prozent Alkohol hat und der sich auch als Treibsatz für Grillkohle verwenden lässt im Unterschied zu dem 55-prozentigen, der mehr für die Touristen ist. Diese ganze China-Reise war ein einziges Debakel, nüchtern gesehen, auch wenn es offiziell anders dargestellt wurde. Von großen deutsch-chinesischen Projekten war hinterher offiziell die Rede - und von der Vertiefung der Zusammenarbeit. Nach dem Massaker sagte aber darüber erst einmal niemand mehr etwas.
Dass mir dies jetzt wieder in den Sinn kam, während ich den Weg vom Pool zu unserem Appartement zurücklegte, hing vielleicht auch damit zusammen, dass der Mann von der Bundeszentrale für politische Bildung eine gewisse Ähnlichkeit mit einer Buddha-Karikatur hatte, genau wie Kohl, der vor lauter Zufriedenheit über sein einheitsdeutsches Gesamtkunstwerk jeden Tag dicker wurde. Vielleicht hing es auch mit meiner Stimmung zusammen. Oft, wenn ich mich nicht richtig gut fühle, fällt mir China ein. Man muss das nicht überwerten, womöglich liegt es daran, dass dieses Land ideologisch gesehen zu kompliziert ist - Stalinismus und Kapitalismus zusammen, das ist ein bisschen viel, selbst für einen auf- und abgeklärten Alt-68er, der mittlerweile ein innenpolitisches Ressort leitet. Was ich sagen will: Das Leben eines Journalisten kann zuweilen auf subtile Weise hart sein, selbst dann, wenn er sich gerade im Urlaub befindet.
Ich schloss die Tür des Ferienappartements hinter mir und warf mich auf die Couch und zündete mir eine Zigarette an, und gerade war ich dabei, wieder ein bisschen zu mir zu finden, als Anna hereingestürmt kam.
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