Anna versuchte mich zu beschwichtigen, sie meinte, ich solle mich nicht so anstellen, ich würde schon keinen Muskelschwund bekommen, wenn ich mal eine Weile etwas kürzer träte, außerdem könne ich ja täglich in dem Pool meine Bahnen schwimmen.
„Ach ja?“, fragte ich höhnisch, „Bahnen schwimmen? In diesem Plantschbecken, das obendrein mit Kindern überfüllt ist? Meine Güte, du hast vielleicht Nerven.“
Viel hätte nicht gefehlt, und meine Laune wäre auf den Nullpunkt gesunken. Aber ich gab mir Mühe, es nicht so weit kommen zu lassen. Ich versuchte meine Freude daran zu haben, wie meine Frau und mein jüngster Sohn offenbar dabei waren, dem Ganzen hier einen gewissen Unterhaltungswert abzugewinnen. Ich nahm mir vor, dies einfach als verlorene Zeit abzubuchen. Ich würde körperlich weiter verfallen und in dieser Tristesse hier ein bisschen verblöden, was womöglich gar nicht das Schlechteste war. „Wer weiß, wofür es gut ist“ - das ist so eine Lebensweisheit, die ich sonst immer gern anbringe, auch wenn ich dafür meistens nur skeptische Blicke von Anna ernte. Vielleicht war es gut, sich für eine gewisse Zeit einem Zustand der Anspruchslosigkeit sowohl in physischer als auch psychischer und geistiger Hinsicht hinzugeben. An nichts denken, nichts tun und nur dasitzen, höchstens etwas lesen und ansonsten abwarten, bis es vorüber ist - wenn ich Glück hatte, würde es mir am Ende noch gelingen, einen Blick ins Nirwana zu tun.
Ich hatte den neuen John Irving dabei und noch ein paar andere Neuerscheinungen, die schon seit Wochen zu Hause eingeschweißt und ladenfrisch im Regal gelegen hatten, eigentlich eine Schande. Die wichtigste Schule des Schreibens ist Lesen, das sollte sogar für Zeitungsredakteure gelten, und dass ich diese Regel so lange missachtet hatte, war auch ein Zeichen dafür, dass längst nicht alles so war wie es hätte sein sollen.
Ich suchte mir morgens etwas abseits einen ruhigen Platz auf der Liegewiese und positionierte den Liegestuhl so, dass nicht nur mein Gehirn etwas von diesen Exerzitien hatte. Ich wollte wenigstens ein bisschen braun zu werden, wenn ich schon sonst nichts für mein Äußeres tun konnte. Es kam sogar vor, dass sich die Sonne blicken ließ, auch wenn es ihr weitaus besser zu gefallen schien, sich immer wieder hinter Wolkengebirgen zu verkriechen, bei deren Anblick der Himalaya vor Neid erblasst wäre. Wenn das hier kein reduziertes Dasein war, dann sollte mir mal einer sagen, was überhaupt noch unter Reduktion zu verstehen ist. Der einzige Adrenalinstoß des Tages rührte von dem Ärger, den ich spürte, wenn ich meinen Spaziergang zum Zeitungskiosk machte und wieder feststellen musste, dass Rottmann mich immer noch sabotierte, und darauf hätte ich gut verzichten können.
Doch der Kelch der Bitternis war noch keineswegs zur Neige getrunken. Es dauerte nicht lange, da machte Anna Anstalten, mich in ihre kommunikativen Exerzitien, um nicht zu sagen, Exzesse, einzubeziehen, und das war nun wirklich das Letzte, wonach mir der Sinn stand. Als ich eines Morgens, am vierten Tag war es, um genau zu sein, zum Pool kam, um meine Leseecke zu beziehen, gab Anna mir Zeichen, ich solle doch näher heranrücken. Sie saß gerade bei einem korpulenten, weißhäutigen Mann und einer etwas älteren Frau von schätzungsweise fünfzig in einem geblümten Einteiler, das waren Leute, mit denen ich sie schon am Nachmittag zuvor im intensiven Gedankenaustausch bemerkt hatte, nachdem sie einen Wurstfabrikanten aus Gummersbach mit Frau und drei Kindern, eine alleinstehende Handarbeitslehrerin aus Oelde sowie ein junges, alternatives Ehepaar aus Frankfurt/Main - er ein Werkzeugmacher mit Zopf, sie eine hochschwangere Kindergärtnerin in Latzhosen - ausgeforscht hatte. Am Abend war mir hierüber ausführlich Bericht erstattet worden, ohne dass offenbar Zweifel bestanden, ob mich das Ganze interessierte.
Ich ließ mich in meinen Liegestuhl sinken und versuchte, Annas Gesten zu ignorieren, aber ich saß noch nicht ganz, da stand sie auf und kam zu mir herüber. Sie beugte sich zu mir - ich ahnte nichts Gutes - und sagte: „Du könntest ruhig mal etwas kommunikativer sein, manchmal ist es richtig peinlich, wie du dich abkapselst.“
Ich entgegnete, dass ich lieber lesen würde, doch das prallte an ihr ab, sie ließ nicht locker.
„Die Frau ist Ärztin und er, er arbeitet bei der Bundeszentrale für politische Bildung oder so ähnlich, das ist doch bestimmt interessant für dich, ich habe ihm erzählt, dass du bei der Zeitung bist, nun komm schon, hab dich nicht so“, sagte sie, und so wie sie es sagte, löste es diese grundsätzlichen Überlegungen bei mir aus über die Frage, was sich letztlich lohnt und was nicht. Womöglich gab es etwas, das noch weniger interessant für mich war als ein dicker Mann von der Bundeszentrale für politische Bildung, aber mir fiel so auf Anhieb nicht ein, was es sein könnte. Diese Bundeszentrale war mir insofern ein Begriff, als sie diverse Druckerzeugnisse und Broschüren herausgab, die gelegentlich auf meinem Schreibtisch landeten, wie wohl auf etlichen Redakteursschreibtischen, aber bei mir blieben sie dort nie lange liegen, weil ich sie sofort in den Papierkorb warf, ohne dies für ein Sakrileg zu halten. Mir sollte hier offenbar nichts erspart bleiben, soviel war klar. Doch ich wollte nicht auch noch Stress mit Anna bekommen, deshalb tat ich ihr den Gefallen, ich klappte den Irving zu, erhob mich seufzend und trottete hinüber, indem ich meinen Stuhl hinter mir her schleifte.
Kaum saß ich bei Anna und den beiden, begann der Dicke sofort davon zu reden, wie aufregend und spannend es doch gewiss bei der Zeitung sei. Er selbst habe auch einmal mit dem Gedanken gespielt, Journalist zu werden, und während seines Politologie-Studiums habe er ein Praktikum beim „Bonner Generalanzeiger“ absolviert. Aber es sei ihm zu hektisch gewesen.
,,Hektisch?“, fragte ich ihn, „wieso soll es bei der Zeitung hektisch zugehen? Die meiste Zeit ist es eher langweilig. Das meiste ist Routine, fast wie im öffentlichen Dienst.“
Er guckte mich merkwürdig an und meinte dann, dass doch die Politik neuerdings sehr spannend geworden sei, wegen der Einheit und überhaupt. Selbst in Bonn bekomme man das mit, und für mich in Berlin habe sich doch erst recht alles grundlegend verändert.
„Na ja, wie man's nimmt“, erwiderte ich und musterte versonnen meine Zehennägel. „Man kann jetzt zum Alexanderplatz fahren und eine Bratwurst essen, ohne zwischendurch von den Vopos erschossen zu werden - falls man auf Bratwurst steht. Ich persönlich bin eher der Döner-Typ, wissen Sie, und die Döner sind im Westen einfach besser.“
Annas Kopf fuhr herum und mich traf ein Blick wie ein Messer, das fühlte ich, obschon ich weiter in erster Linie meine Füße betrachtete. Im Gesicht des Dicken zuckte etwas, wahrscheinlich ein Nerv, was unter dem Fleisch nicht genau auszumachen war, aber er wahrte Haltung, das musste ich ihm lassen. Er startete einen neuen Versuch und wollte wissen, was ich denn so im einzelnen bei der Zeitung mache, und ich tat ihm den Gefallen und sagte es ihm. Es schien ihn zu beeindrucken.
„Was ich immer schon einmal wissen wollte...“, sagte er nach kurzem Überlegen. „Diese Kommentare - wie und wann und von wem wird das eigentlich festgelegt, wer zu welchem Thema schreibt? Da gibt es doch sicherlich sehr intensive Diskussionen, ich stelle mir das jedenfalls sehr schwierig vor, ich meine, die Meinungsbildung ist doch sozusagen die Krone des Journalismus, zumal wenn man es unter dem Aspekt der gesellschaftlichen Verantwortung sieht.“
„Schwierig ist das überhaupt nicht“, sagte ich und versuchte dabei, den Blick nicht von meinen Zehen zu wenden, ich fühlte mich beinahe von ihnen hypnotisiert. „Sehen Sie mal, das meiste im Journalismus - wie auch in der Politik - besteht doch aus Wiederholung. Alles ist schon mal dagewesen, wie der arabische Philosoph Ben Akiba bereits vor zweitausend Jahren feststellte. Kennen Sie Ben Akiba? Er ist gewissermaßen der Hausheilige der Kommentatoren. Ein ordentlicher Politikkommentator hat also eine Reihe von fertigen Kommentaren im Computer gespeichert, und sobald sich das passende Ereignis einstellt, wird der entsprechende Kommentar gedruckt. Der Kommentar zum Ministerrücktritt beispielsweise. Ben Akiba. Oder der Kommentar zu dem Gesetz, das im Bundestag beschlossen wurde, im Bundesrat aber durchfällt. Ben Akiba. Oder, neuerdings sehr beliebt, der Kommentar zu dem mühevollen Prozess der inneren Einigung - irgendeine Sonntagsrede von irgendeinem Kanzler oder Bundespräsidenten. Ben Akiba. Man schaut in seine elektronische Vorratskiste, prüft kurz die Kompatibilität, und wenn es halbwegs passt, fügt man noch ein paar Sätze wegen des aktuellen Bezugs ein und schon ist die Sache erledigt.“
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