„Sag mal, spinnst du?“, wollte sie wissen.
„Bitte, hör auf, ich habe keine Lust, mit dir zu streiten“, sagte ich. „Ich bin einfach nicht so besonders gut drauf, das ist alles. Außerdem habe ich Urlaub, und im Urlaub möchte ich nicht über meinen Beruf reden, vor allem nicht angesichts der gegenwärtigen Umstände.“
„Es sind sehr nette Leute“, sagte Anna, „und ich finde es schlichtweg blamabel, wie du dich manchmal aufführst, völlig daneben ist das. Ich weiß, dass du nicht gut drauf bist, aber deswegen musst du dich nicht so gehen lassen.“
Ich hatte ihr einiges von meinen beruflichen Sorgen erzählt, wenn auch nicht alles, und sie hatte gemeint, ich solle mich damit nicht verrückt machen. Ungewohnte Klänge in meinen Ohren waren das gewesen - sie, die sich sonst ständig Sorgen um alles machte, versuchte mich zu beruhigen. Jetzt stand sie da in ihrem gelbenBikini, und ich hatte auf einmal die Idee, sie einfach zu mir auf dieses Sofa zu ziehen und den ganzen Ärger zu vergessen, der mir auf der Seele lag, wenigstens für ein paar Minuten. Weiß der Himmel, was manchmal in einem Menschen vorgeht, selbst wenn dieser Mensch man selbst ist. Doch ein Rest von Verstand sagte mir sofort, dass dies wohl wirklich nicht der richtige Moment war, einen sich abzeichnenden kleinen Ehezwist auf die bewährte Methode im Keim zu ersticken. Anna war einfach sauer auf mich, und wenn sie auf diese Art missgestimmt ist in Bezug auf meine Person, dann hilft gar nichts - außer abwarten. Irgendwann gibt sich das wieder. Aber mir kam eine Idee, um diesen Prozess etwas zu beschleunigen.
„Außerdem habe ich Zahnschmerzen“, sagte ich.
Manche Männer müssen Heldentaten vollbringen, um ihre Frauen oder überhaupt die Frauen zu beeindrucken. Wenn ich irgendetwas geschrieben habe, was alle einigermaßen gelungen finden, bleibt Anna meistens kühl. Es imponiert ihr auch nicht besonders, dass ich körperlich noch ganz gut in Form bin, während andere Männer in meinem Alter schmale Schultern, Hühnerbrüste oder Hängebäuche haben. Bisweilen gelingt es mir, sie durch irgendeinen dummen Spruch zum Lachen zu bringen - was eine Menge ist. Eine Frau zu unterhalten, ist ohnehin das Größte, was ein Mann vollbringen kann. Was Anna, meine schöne, manchmal etwas schwierige Frau, jedoch völlig aus der Fassung und sofort zum Schmelzen bringt, ist ein Mann - vorzugsweise natürlich ihr Mann -, der Zahnschmerzen hat und sich zu diesen auch bekennt und folglich nicht zögert, einen Zahnarzt aufzusuchen. Anna hat Angst vor dem Zahnarzt, zurückhaltend ausgedrückt. Tatsächlich gibt es kaum etwas, wovor sie mehr Angst hat. Und wer diese Angst nicht kennt, hat in ihren Augen zwangsläufig etwas Heroisches. Weibliche Logik kann mitunter auch sehr simpel sein.
„Um Gottes willen!“, sagte Anna. ,,Ist es schlimm? Welcher Zahn ist es?“
„Das weiß ich selbst nicht so genau“, antwortete ich. „Es ist ein eher diffuser Schmerz, möglicherweise so etwas wie eine nervliche Reizung, keine Ahnung, aber es beeinträchtigt mein Befinden ein bisschen.“
Sie zerfloss vor Mitgefühl. Ob es irgendetwas gebe, das sie für mich tun könne, fragte sie und streichelte meine Schulter. Ich schwankte kurz, ob ich meine anfängliche Überlegung wieder aufgreifen sollte, kam aber zu dem Schluss, dass mir meine Ruhe letzten Endes wichtiger war. Ich sagte, das sei sehr lieb von ihr, aber so wie die Dinge lägen, sei es nicht leicht, etwas für mich zu tun. Mir würde bestimmt später, am Abend, bestimmt noch etwas einfallen. Sie dürfe mir aber einen Kuss geben, so etwas wüssten wehe Mäuler immer zu schätzen. Ich versuchte, zugleich gequält
und ein bisschen verführerisch zu lächeln.
Anna guckte skeptisch, setzte sich dann aber doch auf die Couchkante. Sie wollte eine Zigarette, sie redete ständig davon, mit dem Rauchen aufzuhören. Doch was man darauf geben konnte, war so gut wie nichts. Ich zündete eine für uns beide an und wir rauchten abwechselnd und schwiegen.
„Du bist ziemlich fertig, stimmt's?“, sagte sie nach einer Weile, so als sei diese Erkenntnis gerade über sie gekommen, ,,nicht nur wegen des Zahns, oder?“
Ich nickte nur. Sie fragte, ob sie noch bleiben solle, ich müsse das nur sagen, oder ob es mir lieber sei, wenn sie gehe. Ich hätte es gern selbst gewusst. Ich sagte nichts. Nachdem sie die Zigarette ausgedrückt hatte, stand sie auf und ging. Ich sah ihr nach, ein bisschen traurig, aber auch ein bisschen erleichtert. Als sie weg war, stellte ich fest, dass ich tatsächlich Zahnschmerzen hatte.
Ich fuhr mit der Zunge über die Stelle, an der gebohrt und gespachtelt worden war, und ich konnte kaum glauben, dass das alles erst ein paar Stunden zurücklag. Die Autobahn war immer noch eine Fußgängerzone, aber es sah so aus, als sei es mit dem vielen Blaulicht dort drüben bei McDonald's nicht mehr ganz so wild, die Dinge schienen sich allmählich in Richtung einer gewissen Normalisierung zu entwickeln.
,,Einen Zahnarzt, warten Sie...ja, es gibt einen gleich hier in der Nähe“, hatte er gesagt und mir einen Namen und eine Adresse aufgeschrieben. Die Formalitäten mit unserer Anmeldung hatte eine junge Frau erledigt, eine hübsche Blonde mit einer schlanken Figur, die nur von einem knappen Bikini verhüllt war. Ich hatte das sehr wohl registriert, obwohl Anna dabei war, schließlich behauptet sie immer, sie finde nichts dabei, wenn ich nach anderen Frauen schaue, das sei schließlich ein Zeichen dafür, das ich ein normaler Mann sei.
Ob sie das jedes Mal ganz ernst meint, weiß ich allerdings nicht. Später hatte ich die Frau noch am Pool mit einem kleinen Kind gesehen, das schrie, weil es allein ins Wasser wollte, was die Frau aber nicht zuließ, offenkundig deshalb, weil das Kind höchstens zwei war und nicht schwimmen konnte. Die Frau wirkte ein bisschen angespannt, beinahe schon unglücklich, nicht nur wegen des Theaters mit dem Kind, wie mir schien.
Der, der mir den Zettel mit der Zahnarztadresse über die Anmeldetheke schob, war ihr Mann, das wurde mit jetzt klar, manchmal brauche ich, wie Anna sagt, etwas länger, um die Zusammenhänge zu begreifen, sofern es sich nicht gerade um Politik handelt. Der Mann sah ein bisschen aus wie Keith Richards, das war das Nächste, was ich dachte, und das hatte wahrscheinlich auch damit zu tun, dass ich vor zwei Wochen bei dem Konzert der Stones im Olympia-Stadion gewesen war. Er war um einiges älter als ich, so etwas sieht man sofort, sein Gesicht war auf diese bestimmte Art zerfurcht, von der ich nie genau weiß, ob ich hoffen oder doch eher befürchten soll, dass meines auch einst so aussehen könnte. Irgendwie hat es etwas, so auszusehen - so jung und alt zugleich und so frivol lavierend zwischen den Gezeiten. Manchmal, wenn ich am Morgen in den Spiegel gucke, weiß ich nicht, ob ich wie ein junger Alter oder wie ein leicht verlebter Fast-noch-Junger aussehe. Manchmal gucke ich mich minutenlang an und weiß beim besten Willen nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll.
Es gibt eine gewisse physiognomische Manier des Alterns, die hart an der Grenze zur Würdelosigkeit rangiert, deren Charme aber eben daher rührt, dass sie diese Grenze nicht wirklich streifen wird. Bei Mick Jagger war ich mir diesbezüglich nie so sicher, im Fall von Keith Richards aber wohl. Der alterte nach Art dieser schwarzen Blues-Sänger, die noch mit achtzig auf der Bühne mehr herum tapsen als stehen und dabei an eine Mischung aus Vogelscheuchen und vergreisten Tunten erinnern. Aber dennoch bewahren sie sich ihre Würde, ganz abgesehen von der Tatsache, dass sie Gitarre spielen wie die Götter.
Bei diesem Stones-Konzert in Berlin hatte ich mit einer Frau aus Zehlendorf, deren Kinder weiter vorn vor der Bühne herumturnten, einen Joint geraucht. Anna war nicht dabei, sie mag keine solch großen Menschenansammlungen, ich an sich auch nicht, aber für die Stones machte ich eine Ausnahme, ich hörte sie hier schließlich zum ersten Mal live, nach all den vielen Jahren, die seit meiner Schulzeit vergangen waren, nach all der Zeit, in der sie mich begleitet hatten, allen Spöttern zum Trotz, sie gehörten zu meinem musikalischen Standardsortiment genau wie Beethoven und Dvorak und noch ein paar andere, für die man sich nicht entschuldigen muss.
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