Ich habe mir auch nach dem Zusammenbruchs jenes utopischen Gedankengebäudes, in dem bis zum Jahr 1989 Gleichheit, Freiheit
und Brüderlichkeit und noch ein paar andere sympathische antikapitalistische Gespenster hausten, einen Rest von Glauben an die Lernfähigkeit des Menschen bewahrt. Offenbar bin ich ein bisschen naiv. Man darf wohl von der Lernfähigkeit nicht allzu viel erwarten, zumindest nicht, soweit sie sich auf die Friedensfähigkeit von Kleinstgruppen im Zweierformat bezieht. Je kleiner die Zahl der in Frage kommenden Menschen ist, desto kleiner wird womöglich die Lernfähigkeit - ganz im Gegensatz zu der verbreiteten These, dass es die Masse ist, die sich durch Dummheit auszeichnet. Zwei wissen kaum mehr als einer, und das ist so gut wie nichts. Das ist meine Erfahrung; und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie nicht allein gemacht habe.
Ganze Gesellschaften zu pädagogisieren ist ein Kinderspiel verglichen mit der Aufgabe, zwei Eheleute zu einem einigermaßen rationalen, kräftesparenden, konfliktvermeidenden Verhalten zu bringen, nicht einmal das Leben selbst schafft das. Paare in festen, langandauernden Beziehungen - und nur für sie kann ich sprechen - sind praktisch lernunfähig, und ihre Lernunfähigkeit steigt mit zunehmender Beziehungsdauer. Sie machen nicht nur immer wieder dieselben Fehler, sondern wenden einen Gutteil ihrer Zeit dafür auf, ständig neue Fehlermöglichkeiten zu ersinnen.
Vielleicht steckt dahinter eine Art von Masochismus, oder auch das Gegenteil davon, irgendeine eine besonders subtile Form von Hedonismus, was womöglich ein und dasselbe ist. Vielleicht sind die beiden Konfliktparteien einfach nur wild auf den Genuss, den es bereitet, jene Variante von Waffenstillstand auszuhandeln, die sie in ihrer Blauäugigkeit für Frieden halten. Vielleicht ist gerade dies das Elixier, das ihre Zweisamkeit am Leben erhält. Vielleicht kann eine Beziehung überhaupt nur dann sehr lange dauern, wenn die beiden Beteiligten sich ständig bemühen, Möglichkeiten für ihre Zerstörung zu erproben, nur um sich dann immer wieder zu dem Versuch durchzuringen, die Scherben anschließend so säuberlich zusammenzukitten, dass das Ganze wie neu aussieht. Auch Knochen, die einmal gebrochen und wieder zusammengewachsen sind, weisen ja angeblich in dieser Stelle eine erhöhte Festigkeit aus.
Grillen zirpten, es roch nach frisch geschnittenen Wiesen - oder besser: Autobahn-Randstreifen - und der fast volle Mond schien dick und gelb durch das geöffnete Schiebedach unseres Volvo. Ich hatte von meiner väterlichen Amtsgewalt Gebrauch gemacht und Julius zu verstehen gegeben, dass es tatsächlich besser sei, nicht auszusteigen, seine Mutter habe in diesem Punkt völlig Recht, sagte ich. Die Lage entspannte sich daraufhin ein wenig. Ich schaltete das Radio an, und wie bestellt spielten sie gerade „Eternal Flame“ von den Bangles, ein Stück, bei dem ich wahrscheinlich immer zum Taschentuch greifen werde, auch mit siebenundachtzig noch, selbst wenn man mich einer bedenklichen Anfälligkeit für Kitsch zeihen wird.
Wir sahen durch unsere Autoscheiben Menschen hin und her huschen, aus einer Perspektive ähnlich jener der Fische im Aquarium. Man weiß nicht viel über die Gedankenwelt der Fische, aber was mich betraf, so fand ich die Darbietungen da draußen nicht übermäßig faszinierend. Die Menschen bewegten sich mit unbestimmter Geschäftigkeit, ohne erkennbares Ziel, sie liefen oder standen dort einfach so herum. Viel ist es nicht, was Menschen so einfällt, um Zeit totzuschlagen, wenn es auf der Autobahn nicht weitergeht oder überhaupt im Leben. Fast hätte mich der Anblick nervös gemacht. Herdentriebhaft gesteuerte motorische Unruhe, hätte man da sagen können. Oder irregeleiteter Erlebnishunger in einer Phase zwangsweise erzeugter Immobilität der Mobilgesellschaft.
Mir fallen zuweilen solche Sätze zur Erklärung eher banaler Situationen ein. Meistens verkneife ich es mir, sie auszusprechen, vor allem in Gegenwart von Anna. Sie hat ein Gespür dafür, wenn ich ins Theoretisieren zu geraten drohe, und sie zögert nicht, mir das zu sagen.
„Nun bleib mal ganz ruhig“, sagt sie dann. „Es ist nicht alles leitartikelfähig, was einem im Leben so widerfährt.“
Damit spielt sie auf meinen Beruf an, Journalist, und gewiss ist dies eine weise Einsicht. Wenn jemand von uns beiden den Boden etwas härter unter den Füßen hat, dann bin ich derjenige vermutlich nicht - trotz ihrer ganzen Ängstlichkeit ist Anna die handfestere, wenn es wirklich hart auf hart kommt. Jetzt, angesichts dieser Szenen einer diffusen Umtriebigkeit größerer Scharen unserer Artgenossen, schwiegen wir beide, es war wohl vor allem wegen der Musik. Bei mir kam noch hinzu, dass ich gerade jetzt wieder an diesen Anruf denken musste, dessentwegen wir Hals über Kopf aufgebrochen waren mit dem vorläufigen Resultat, dass wir jetzt hier standen. Aber mich deprimierte auch der Anblick dieser Leute da vor unserem Ausguck. Anna meint ohnehin, ich sei ein wenig misanthropisch veranlagt, und nicht immer bin ich sicher, dass sie völlig falsch liegt. Tatsache ist, dass ich mich irgendwie im Gemütsbereich beschwert fühle, wenn ich größere Ansammlungen von Menschen sehe, die so aussehen, als gehörten sie eigentlich in die Fußgängerzone einer mittelgroßen deutschen Kleinstadt, egal ob die im Westen oder Osten gelegen ist.
Das hier waren Deutsche, so viel war klar. Es waren ältere Männer dabei mit Bäuchen, die über den Gürtel großzügig geschnittener Jeans ragten oder in beigefarbene Autofahrerhosen mit verstellbarem Bund gezwängt waren, auch jüngere Männer in bunten Sporthemden oder weißen T-Shirts und engen Jeans waren zu beobachten; und es waren füllige Frauen in Kleidern und Strickwesten zu sehen, die zu solchen Männern passten. Es gab auch einige junge schlanke Frauen in kurzen Röcken und knappen Tops, die den Nabel freiließen, was nicht immer so gut aussieht, wie es sich die entsprechende Person vorstellt, manchmal aber ausnahmsweise
doch. Man guckt als Mann ganz von selbst hin, ohne sich darüber klar zu sein, weshalb. Es ist dieser genetisch bedingte Jagdtrieb, niemand sollte sich hierüber Illusionen machen, gleichgültig, ob er lange verheiratet ist oder kurz oder gar nicht. Und mit Ästhetik hat das auch vergleichsweise wenig zu tun.
Ein paar Kinder sprangen dort auch herum, und ihre Mutter, die ein hautenges gelbes Stretchkleid trug, hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit Patricia Arquette. Sie rief etwas, das wenig mütterlich klang, während ihr Mann - geblümtes Hemd, Bermuda-Shorts, leichter Bauchansatz - einen Sixpack aus dem Kofferraum seines Opel-Vectra hervorholte, sich auf die Leitplanke hockte, die erste Flasche köpfte und sich eine neue Zigarette anzündete, gerade nachdem er eine ausgetreten hatte. Es war kein schönes Bild.
Womöglich war der Gatte von Patricia Arquette noch vor ein paar Jahren bei der Nationalen Volksarmee gewesen. Vielleicht hatte er sogar irgendwo an der Grenze gestanden und auf Flüchtlinge gezielt. Oder er hatte als Stasi-Spitzel harmlose christliche Hausfrauen überwacht, die ihren Seitensprung dem Pfarrer beichteten - falls er nicht ostdeutsche Untergrundschriftsteller überwacht hatte, von denen es nach groben Schätzungen mindestens eine halbe Million gegeben haben musste. Vielleicht tat ich ihm auch Unrecht und er war ein ganz gewöhnlicher Heizungsmonteur, der sich unter Honecker genau so wenig für Politik interessiert hatte wie er es jetzt unter Kohl tat und der wie die meisten ostdeutschen Handwerker versucht hatte, die Mangelwirtschaft mit dem Minimum an Werkzeug auszutricksen, das einem im Arbeiter- und Bauernstaat zur Verfügung stand, mit Hammer und Sichel gewissermaßen,
obschon das eigentlich mehr zur Sowjetunion passte. Ich hoffte zu seinen Gunsten, dass er nie im Leben gebrüllt hatte „Wir sind das Volk“, aber ich bezweifelte, dass diese Hoffnung realistisch war.
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