„Herbert – was ist denn hier los!? Du hast am Telefon nur gesagt …“
Währenddessen zog Korp seinen Vorgesetzten beiseite und flüsterte ihm ins Ohr: „Der liegt schon seit gestern Abend hier. Todeseintritt Samstag gegen dreiundzwanzig Uhr. Hat den denn keiner gesehen?“
„Die Schicht fängt erst um achtzehn Uhr am Sonntag wieder an, seit Samstag früh war keiner mehr hier, wenn ich den Mann richtig verstanden habe.“
„Immer noch vier Stunden ...“
Langer nickte, wandte sich um und stellte sich – mit Ausweis – dem Neuankömmling vor. „Bitte setzen Sie sich. Herr Nagel, wie ich annehme?“
Der Chef vom Dienst nickte.
Langer hielt ihm sein Handy hin. „Kennen Sie diesen Mann?“
Nagel stöhnte und sank auf einen Stuhl. „Ach du lieber Gott! Ist der tot?“
„Sie kennen ihn also?“
„Nein, natürlich nicht.“ Nagel schüttelte ärgerlich den Kopf und schob das Bild weg. Was interessiert mich der Typ, schien er sagen zu wollen. „Ein Toter in der Halle! Die Stadtausgabe muss raus! – Was mache ich denn jetzt?!“ – Sein Kopf fuhr zu Steiner herum. „Hast du das Band angehalten?!“
Kopfschütteln. Schulterzucken. „Aber spät sind wir trotzdem, Werner.“ Zu den Polizisten gewandt, fragte Steiner: „Ich müsste mal wieder an meine Arbeit. Soll ich den José hereinschicken?“
„Einen Moment noch. Wenn nicht gearbeitet wird, wie zum Beispiel samstags – wer kommt dann hier rein?“
„Niemand. Nur, wer einen Schlüssel fürs Tor vorne am Hof hat.“
„Ja? Und wer hat einen Schlüssel? Hören Sie, wir wären schneller fertig, wenn man Ihnen nicht alles aus der Nase ...“
„Ich beantworte doch Ihre Fragen! Also, ich habe einen Schlüssel. Und wer von den hohen Herren alles einen Schlüssel hat, weiß ich wirklich nicht.“
Gegen vier Uhr hatten die Beamten die Halle geräumt, war auch die letzte, die Stadtausgabe der FNZ – wenn auch verspätet – verladen und unterwegs zu den Kiosken und Verteilern. Und Werner Nagel dem Herzinfarkt nahe. Die Arbeiter der Nachtschicht, inklusive des Chefs vom Dienst, hatten nichts ausgesagt, was den Beamten hätte weiterhelfen können. Nur, dass Nagel dazu mehr Worte, Gesten, Ausbrüche und Beschimpfungen brauchte als die anderen.
In der Halle war es inzwischen still, die Lastwagen verschwunden. Die Spurensicherung hatte ihre Untersuchung noch nicht abgeschlossen. Langer und Korp traten hinaus, wo sie von einem lautstarken Konzert aus Zwitschern, Piepen, Trällern und Zirpen empfangen wurden. Im Osten war der Himmel schon hell. Ein neuer Morgen, der einen schönen Tag ankündigte, war über Sachsenhausen angebrochen.
„Und nachher“, meinte Langer zu seinem Kollegen, der sich gähnend streckte, „nachher werden Sie mal einen ganz armen Mann am Taunus besuchen.“
5
„Wir bitten um Ihre Aufmerksamkeit für eine Durchsage. Die Polizei bittet um Ihre Mithilfe. Seit heute in den frühen Morgenstunden wird Frau Bianca von Hellgarten aus Königstein vermisst. Frau von Hellgarten ist 65 Jahre alt, hat dunkelblondes, kurz geschnittenes Haar und trägt helle Hosen, einen dunklen Blazer und helle Schuhe. Frau von Hellgarten ist orientierungslos und braucht dringend ärztliche Hilfe. Hinweise bitte an die Polizei in Königstein oder an jede andere Polizeidienststelle.“
Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Robert Stenger zu lange auf das Autoradio gestarrt. Als er wieder auf die Fahrbahn schaute, war es zu spät. Seine Bremsen quietschten, und er hörte das abscheuliche Geräusch, das Metall verursacht, wenn es mit seinesgleichen in ungewollte, schlagartige Verbindung kommt. Er wurde ans Lenkrad geschleudert, der Sicherheitsgurt brannte auf seiner Brust, dann stand der Wagen. Für einen Moment war Stille. Nichts bewegte sich. Robert saß immer noch benommen hinter dem Steuer, als ein junger Mann, der Fahrer des weißen Golf vor ihm, bereits die Fahrertür geöffnet hatte und besorgt auf ihn einredete.
„Ist Ihnen was passiert?“
Robert sah in ein vorwiegend von Akne beherrschtes Gesicht, das ein schüchterner Kinnbart auch nicht mehr retten konnte, und in ein Paar erschrockene Augen. Vorsichtig versuchte er, den Gurt zu lösen und aus dem Auto zu steigen.
Der junge Mann half ihm. „Mann, ich glaube, wir haben irgendwie noch mal echt Glück gehabt, was?“ Er grinste schon wieder zaghaft.
„Es war wohl meine Schuld“, murmelte Robert, während er sich an die Fahrertür lehnte. „Am besten, wir tauschen unsere Adressen aus, um den Rest soll sich die Versicherung kümmern.“ Der Aufprall war – im Vergleich zu den fürchterlichen Phantasien, die ihm eben noch durch den Kopf geschossen waren – harmlos.
„Ja, also, ich weiß jetzt nicht.“ Der Jüngling kraulte gedankenverloren sein Kinn. „Ehrlich, ich weiß jetzt echt nicht – Sollen wir nicht lieber die Polizei irgendwie ...?“
„Ach was!“ Robert bewegte vorsichtig seinen Kopf hin und her und tastete seinen Brustkorb ab. Es tat noch weh, der Gurt hatte sich festgezurrt, doch es würde gehen. „Bis die da ist! Da können wir hier Stunden warten!“ Er sah sich um. Auf der Landstraße, die sich zwischen den Hügeln der Wetterau wand, war kein Auto zu sehen. „Und außerdem – ich bin aufgefahren; das sieht man ja wohl.“ Er zeigte auf die verbeulte Stoßstange des alten Golfs und begutachtete dann den Schaden an seinem Peugeot. Die Lampe vorne links war hin, ein Teil des Kotflügels war eingedellt. „Hier, ich schreibe Ihnen meine Kfz-Nummer auf die Karte. Und das ist meine Versicherung.“
Der junge Mann zögerte noch. „Ich denk halt nur, weil, unser Fahrlehrer hat immer gesagt ...“
„Nein, glauben Sie mir. Das ist schon in Ordnung. Und wenn Sie“, jetzt grinste Robert, „wenn Sie Angst haben, dass ich mich drücke: Ich habe Ihnen doch wunderbare Lackspuren von meinem Wagen auf Ihrer Stoßstange zurückgelassen!“
Das schien den anderen zu überzeugen. „Wissen Sie, es ist halt mein erster Unfall. Echt!“
„Na, das will ich echt hoffen! Noch nicht lange Führerschein, wie?“
„Nee – erst jetzt, noch kurz vorm Abi!“ Jetzt strahlte er, sein Bärtchen machte sich auf dem Kinn breit.
„Glückwunsch!“ Robert stieg wieder ein. „Und Entschuldigung für den Schrecken! Bis dann!“ Er winkte ihm noch einmal zu und fuhr vorsichtig an dem weißen Wagen vorbei.
Erst ein paar Kilometer später ging Robert auf, wie es zu dem Unfall gekommen war. Der Junge musste eben aus einer Seitenstraße in die B 275 eingebogen sein, aber zu langsam beschleunigt haben. Robert wiederum hatte das mit Sicherheit nicht das Tempolimit von 80 km/h eingehalten. Er schätzte, dass die Tachonadel eher in Richtung von 100 Stundenkilometern unterwegs war. Der weiße Golf war so plötzlich vor ihm aufgetaucht, als sei er vom Himmel gefallen. Die Vollbremsung steckte Robert immer noch in den Knochen. Und er war von der Radiomeldung völlig abgelenkt gewesen.
Die Radiomeldung ...
Nun, warum sollte er nicht auch mal Glück haben? Gestern der Auftrag – heute im Radio. Er grinste und wurde gleich wieder ernst. Zur Assoziationsreihe „verwirrt“ und „Königstein“ konnte einem nur die Klinik von Prof. Sandmann einfallen. Auf jeden Fall der beste Ansatz, um mit der Suche zu beginnen. Dass es nicht so einfach würde, war ihm klar. Aber immerhin, es war der erste Schritt, Bianca von Hellgarten zu finden.
Bianca von Hellgarten …
Riesige Flächen von Gelb, nur an einigen Stellen unterbrochen von kräftigem Grün, umsäumten die Landstraße. Robert ließ die Scheibe herunter, und während er den Duft der Rapsfelder um ihn herum in sich einsog, grübelte er vor sich hin.
Dieser Hans Meier hatte gestern gesagt, es gehe um Leben und Tod. Hatte er übertrieben? Merkwürdig war er gewesen, ja. Doch ein Wichtigtuer? Nein. Er sah nun nicht so aus, als würde das Geld in seinem Garten auf Bäumen wachsen.
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