Jakob Gramss
Die Unersättlichen
Aufstieg und Fall des Fermín Artagoitia
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Inhaltsverzeichnis
Titel Jakob Gramss Die Unersättlichen Aufstieg und Fall des Fermín Artagoitia Dieses eBook wurde erstellt bei
Vorspeise
Erster Gang
Hauptspeise
Nachtisch
Impressum
Vorspeise
Wie lange das hier jetzt wohl schon so geht? Monate? Jahre? Kann man nicht wissen. Hier passiert ja sowieso nie was. Nicht einmal die Tage vergehen hier. Jedenfalls merk ich nichts davon. Ich hab schon manchmal versucht, mich loszureißen und zu springen. Weiß nicht so recht, was passieren würde, wenn ich's schaffte, ist mir aber auch egal. Ich will nur, dass endlich was passiert, und zwar sofort. Was glauben die eigentlich, was die hier mit mir machen? Da sollten sie doch lieber gleich den Stecker ziehen, und damit hat sich's. So, ganz ohne neue Reize, hält das doch keiner aus. Na ja, eigentlich hab ich ja schon einige Millionen Empfindungen gespeichert, auf die ich zurückgreifen kann. Das mach ich auch. Ich kombinier sie neu, veränder sie ein bisschen, ich dreh sie um, änder die Reihenfolge... Trotzdem sind sie am Ende doch immer wieder auf meinem eigenen Mist gewachsen. Es ist also nicht das Gleiche. Außerdem hab ich in letzter Zeit das Gefühl, dass sie immer schwächer werden. Wenn sie irgendwann mal überhaupt keine Wirkung mehr haben, was dann? Nein! Neinneinnein! Halt! Stopp! So was sollte ich besser gar nicht erst denken. Lieber weiter an früher denken und weiterreden. Auch wenn's immer dasselbe ist. Laberlaberlaber, laber, laber und laber. Weiter nichts. So bleib ich zumindest in Bewegung; so eine Art Halb-Unterwasser-halb-Trocken-Gymnastik (da haben sie es ausnahmsweise mal geschafft, was richtig zu machen: fast 100% Luftfeuchtigkeit, genau wie ich es brauche), bei der nebenher auch noch Geräusche entstehen: platsch-platsch. Nee, war nur Spaß; normalerweise sind es ja Konsonanten und Vokale. Manchmal entwischt mir schon auch der eine oder andere Schnalzlaut, aber meistens sind es Worte und Sätze, und so kommt es, dass ich schon ziemlich lange immer wieder die gleiche Litanei abspule. Was soll man da machen? Komm einfach nicht los davon, wie es früher war; bevor ich hier angekettet und gefangen war, und lange bevor der Kontakt zur Außenwelt abgebrochen ist. Das war Vergnügen ohne Ende. Manchmal intensiver, manchmal sanfter, aber irgendwas gab es immer. Friktion von oben, Gekitzel auf dem Rücken, Gesprudel von unten, jacuzzi-mäßig, ein bisschen in die Seite gezwickt werden, Massage von vorne, ein bisschen mehr Druck in der Mitte und, ja, ich fand es sogar gut, wenn es mal etwas heftiger, derber zuging. Abwechslung muss sein, sag ich immer. Und die Chemie erst, ach, die Chemie! Was da an Molekülen aufgefahren wurde! Die kamen dann in den schönsten Formationen auf mich zu, trennten sich, verbanden sich wieder neu und immer so weiter bis sie sich dann wieder trennten und jedes einzelne dann genau die Stelle traf, an der es für mich am schönsten war. Ich wusste gar nicht, wohin damit. Es wäre wie Sterne zählen gewesen. Unendlich viele Konstellationen. Ein unendlich langes Feuerwerksgeböller aus Formen, Konsistenzen, Farben... aus allen möglichen Eindrücken, die ohne Pause auf mich niederprasselten. Tja, stimmt schon:Ich kann mich auch vage an ein paar bittere Brocken erinnern. Das Über-die-Stränge-Schlagen tat hinterher manchmal ganz schön weh. Und vereinzelt gab es auch schockierende Ereignisse, radikale Einschnitte, die das Leben verändern. Alles eingetaucht in Drama und Durcheinander, aber wenigstens waren diese Phasen kurz und schnell wieder vorbei. Jetzt, wo ich so denke: So was, wie gerade, hab ich doch schon mal erlebt. Aber irgendwie kann ich mich nicht... also, ich komm einfach nicht drauf. Wie ein Gefühl, abgekapselt, in Watte eingebettet zu sein. Oder wie unter Narkose. So etwas ähnliches. Vielleicht hab ich es mal geträumt. Aber, wie gesagt, abgesehen von den paar unangenehmen Geschichten, hatte ich wirklich ein super Leben. Und jetzt, wer hätte das gedacht? Wenn sowas möglich wäre, würde ich täglich hundert Mal vor Langeweile eingehen. All die Eindrücke, die ich gespeichert habe, kenn ich jetzt nun wirklich auswendig. Ich hab sie bis zum Geht-nicht-mehr ausgelutscht, da gibt's nichts mehr rauszuholen. Außerdem, hier, wo ich bin, gibt's ja nichts. Nur diesen feinen, lauwarmen –und das ist wirklich eine verdammte Ironie des Schicksals– auch noch nahrhaften Sprühregen. So hab ich nämlich nicht mal die Aussicht, zu verhungern. Es ist schon so ewig her, dass hier keinerlei Impulse mehr eingehen. Was ich nicht alles geben würde; zum Beispiel für eine Prise Salz, auch wenn's nur ein paar Körnchen wären. Ich wär sogar mit dem Echo eines ausgekauten Kaugummis zufrieden. Ich weiß gar nicht, warum ich mir überhaupt die Mühe mache, all das hier von mir zu geben. Ich weiß nicht mal, ob die Elektroden und Kabel, die ich in meinem Fleisch spüre, noch das Signal an den Zentralrechner weiterleiten, der es damals im ganzen Netz verteilte. Muss man sich mal vorstellen: Tausende, ach was, Millionen von Mündern hingen an mir, waren abhängig von meinen Beiträgen. Und jetzt..., ehh!
krrrszzuizuieen, brsssffnongnong, ksiauzuieen...
Aua! Das tut doch weh! Was...?
krrrszzuizuieen, brsssffnongnong, ksiauzuieen...
Nadia
Fermín hab ich kennengelernt, als er bei meinem Vater in der Firma angefangen hat. Schon am ersten Tag ist er mir aufgefallen, weil er einfach anders war. Die anderen Mitarbeiter hätten genauso gut in einem Baustoffhof oder als Abfüller von Viehfutter arbeiten können. Das war denen sowas von egal. Ihm nicht. Er lief den ganzen Tag mit aufgeblähtem Brustkasten rum, atmete tief ein und sog durch den halb geöffneten Mund die Luft unserer Lagerhalle in sich auf. Er schien richtig besoffen von den Gerüchen, die in dieser Luft lagen; jedenfalls machte er so ein Gesicht. Von meinem Büro im Zwischengeschoss konnte ich ihn auch oft dabei beobachten, wie er einen Finger in einen der riesigen Säcke steckte und ihn dann ableckte. Da stand er dann, wie ein Tagträumer. Und wenn der Vorarbeiter ihn dabei erwischte, schimpfte er mit ihm, und Fermín wurde ganz klein; weil er sich so schämte. Das war es, was mich für ihn einnahm; sein Interesse und seine Begeisterung für das Umfeld, in dem ich aufgewachsen war: zwischen Sternanis, Kardamom, Kurkuma, Pfeffer in allen Farben, Senfkörnern, aromatischen Kräutern, Koriander... Als ich ihn das erste Mal ansprach, war er ganz verdattert und wurde rot wie eine Tomate. Mein Vorwand war, dass ich seine Meinung über die neue Curry-Mischung eines unserer Lieferanten wissen wollte. Ich gab ihm ein Mustertütchen, er sagte irgendwas von was Dringendes erledigen und schon war er wieder verschwunden. Am nächsten Tag, als die anderen alle bei ihrer Brotzeit waren, kam er ins Büro und zählte mit brüchiger Stimme nacheinander alle 23 Gewürze, die in der Mischung drin waren, auf. Ein irrer Typ! Es hat dann aber doch noch ein paar Monate gedauert, bis wir uns das erste Mal in der Küche des anarchistischen Kulturvereins geküsst haben. Damals war er wirklich sehr schüchtern. Ich selbst wollte mich von meinem Unternehmer-Vater abgrenzen und war deshalb diesem alternativen Kochkollektiv beigetreten, mit gesundem Essen und allem Drum und Dran. Fermín hab ich einfach mitgenommen. Von der Arbeit haben wir dann irgendwelche exotischen Gewürze mitgebracht. Er hat die ganzen Körner, Samen und Kräuter gemahlen und Mischungen daraus gemacht, aber nie einen Topf angerührt oder gar gekocht. Er war ein bisschen komisch mit dem Essen.
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