Nadia
Nach der „Heldentat” in der Firma meines Vaters begannen sich die Dinge zu ändern. Oft kam Fermín mit schlechter Laune vom Unterricht zurück. Er kam meistens erst ziemlich spät ins Kollektiv und war dann sauer, wenn wir anderen schon zu Abend gegessen hatten. Unbedingt kochen wollte er dann trotzdem. Und wir mussten natürlich von allem nochmal probieren. Manchmal fing er das Heulen an, nur weil jemand ein kleines bisschen nachsalzte. Dann war er wieder euphorisch, erzählte begeistert, wie toll alles in der Schule oder in der Firma sei, weil es eben dort alles gebe, was man so brauche an Gerätschaften. Ich hatte mehrmals Streit mit meinen Kumpels, weil einige von ihnen Fermín rausschmeißen wollten. Und es gab durchaus Momente, wo ich ihnen eigentlich Recht geben musste. Aber, dann war er wieder so zärtlich zu mir. Er wirkte auf mich so glücklich und gleichzeitig so zerbrechlich, dass ich ihm nicht böse sein konnte. Außerdem, ich weiß nicht, wie er das immer wieder schaffte: Jedes Mal, wenn keiner im Kollektiv mehr was mit ihm zu tun haben wollte, kam er lang vor der Abendessenszeit ganz bescheiden und mit irgendwas Leckerem zu essen an und nahm wieder alle für sich ein. So ging das dann erstmal für ein paar Monate.
Juan Barralibre, alias Johannes Freibier
Ein Bekannter von mir, der Lehrer an der Hotelfachschule war, erzählte mir von Fermín. Er meinte, der Junge hätte zwar ein großes Talent, aber es sei eben schwierig, ihn ins normale Bildungssystem einzubinden. Er würde sich nicht in den Klassenverband einfügen, praktisch mit niemandem sprechen und sich auch nicht an die Unterrichtszeiten halten; das bedeutete nicht etwa, dass er zu spät zum Unterricht käme, sondern dass, wenn der Wachmann abends abschließen wollte, er Fermín mit Gewalt aus der Küche befördern musste. Schon mehrmals hatte er sich auch versteckt und in der Schule einschließen lassen, sodass man ihn am nächsten Morgen auf der Küchenbank eingeschlafen vorfand, wie den Bären im Honig. Die Schulleitung hatte immer ein Auge zugedrückt, weil er eben so außerordentlich talentiert war und auch weil Peter Silie, der ja sein Schulgeld bezahlte und darüber hinaus auch öfter mal der Schule ein Sümmchen spendete, sich immer wieder für ihn einsetzte. Doch eines Tages, nachdem Fermín wieder mal über die Stränge geschlagen hatte –wenn ich mich richtig erinnere, hatte er sämtliche Gewürzvorräte aufgebraucht und außerdem noch den Großbackofen der Schule abgefackelt– beschloss die Lehrerkonferenz, ihn für den Rest des Jahres vom Unterricht auszuschließen. Da ich selbst mehrere Restaurants besaß, bat mich mein Bekannter, mich Fermíns anzunehmen und ihm bei mir eine Chance zu geben. Aufgrund seiner Vorgeschichte hatte ich, ehrlich gesagt, so meine Zweifel, sagte mir dann aber: „Na gut, probieren wir es halt einmal mit ihm.“
X
Der erste Zungenkuss, den er einem Mädchen an einem regnerischen Abend nach dem Kino gab, beförderte ihn schnurstracks zu den Experimenten zurück, die er als Kind mit Essen gemacht hatte. Während er mit noch schüchterner Zunge die Zähne von Clarita abtastete und dabei gleichzeitig versuchte, sie ein bisschen weiter auseinander zu bekommen und sich damit Zugang zum Inneren ihres Mundes zu verschaffen, kam ihm jener Toast mit Honig und Schinken in den Sinn, den er sich eines schönen Morgens vor langer Zeit aus reiner Lust und Laune zubereitet hatte. Eigentlich konnte man das natürlich nicht vergleichen. Er hätte auch nie den Kuss gegen den Toast eingetauscht, aber irgendwie war er eben doch präsent. Mit einem fast unhörbaren Seufzer öffnete Clarita den Mund, so als ob sie genau das verschlingen wollte, was Fermín gerade im Kopf herumging. Ihre Zungen begannen nun –in ihrer Freiheit nurmehr dadurch eingeschränkt, dass mit den Kehlen ihrer jeweiligen Besitzer verbunden waren– miteinander zu spielen; sie kannten weder Schüchternheit noch Scham. Fermín hatte das Gefühl, im Mund des Mädchens einen Schatz gefunden zu haben. Noch in der gleichen Nacht versuchte er, zu Hause in der Küche das zwischen Claritas Lippen entdeckte Gold zu reproduzieren. Nachdem er alle Küchenutensilien benutzt, alle Gewürzdosen und -tütchen geöffnet, den Kühlschrank geplündert und die Speisekammer geleert hatte, legte er sich schließlich um drei Uhr morgens erschöpft, aber glücklich schlafen. Mit einem kleinen bisschen geraspelter Muskatnuss, einem gemörserten roten Pfefferkorn, einer halben, sehr fein gehackten und in Portwein karamellisierten Zwiebel und dem Gratinieren des Ganzen unter einer hauchdünnen Schicht Frischkäse aus Burgos war es ihm gelungen, seine ursprüngliche Erfindung aus Kindertagen so abzurunden, dass sie recht getreu das wiedererstehen ließ, was er einige Stunden zuvor im Mund seiner ersten Freundin wahrgenommen hatte. In den darauf folgenden Wochen, nachdem er Clarita, die sich immer mehr wie ein leergegessener und dann abgeschleckter Teller fühlte, spät abends an ihrer Haustür abgeliefert hatte, verfeinerte Fermín die Komposition (was noch gefehlt hatte, war frischer Salbei, ein Schuss rosa Pampelmusensaft und ein Spritzer Tresterschnaps) und die Zubereitung der Zutaten (man musste braunen anstelle von weißem Zucker für das Karamellisieren nehmen, die Muskatnuss musste mit einem gezähnten Messer zerkleinert werden und nicht mit der kleinen Reibe, die er am Anfang benutzt hatte) sowie den Zeitpunkt und die Reihenfolge ihrer Beimengung. Als er eines Abends, an dem Claritas Eltern zu einer Party aufs Land gefahren waren, wo sie auch übernachten würden, nach ausgiebigem Küssen im Hauseingang ihr keine überzeugende Erklärung geben konnte, warum er unbedingt ganz schnell nach Hause müsse und nicht mit ihr hinauf in die Wohnung könne, gab Clarita ihm endgültig den Laufpass. Anfangs war Fermín noch traurig und niedergeschlagen, doch seine gute Laune kehrte zurück, als er eine Stunde später in den gerade aus dem Ofen geholten Toast biss: Er war ihm perfekt geglückt.
Fermín
Ich konnte einfach nicht anders. Wenn Nadia mich mittags zum Abschied so knutschte, wie nur sie das konnte, war ich immer total mundgeil. Und die wenigen Stunden Unterricht am Nachmittag waren eben zu kurz. Erstmal musste man ein paar Stunden Theorie über sich ergehen lassen. Einmal hab ich tatsächlich in eins von den Büchern reingebissen; hat scheußlich geschmeckt. Aber eigentlich immer noch besser einen scheußlichen Geschmack auf der Zunge haben, als mit kühlem Kopf und leerem Mund eine Wahnsinnsaromaharmonie analysieren zu müssen. Und obwohl man ja nicht mit vollem Mund sprechen soll, kann er einem eigentlich ziemlich viel sagen. Geschmack macht dir nichts vor, er trifft dich direkt und ohne Umwege. Er spricht dir nicht auf die Mailbox und schickt dir keine Flaschenpost, er berührt deinen Gaumen und du verstehst sofort. So war das auch mit Nadia. Sie zog alle meine Register. Jedes Mal, wenn sie mich küsste, schrieb sie mir ein Gedicht in den Mund. Und ich konnte nicht anders; ich musste es dann einfach umsetzen, es irgendwie wieder zum Ausdruck bringen, und zwar schnell. Fleisch, Fisch, Gemüse waren das Papier, die Gewürze die Buchstaben, das Salz die I-Tüpfelchen... (das hier ist jetzt nicht von mir; hab ich von Magda, aber hat mir so gut gefallen, dass ich's übernommen habe). Aber in der Schule wurde eben eine andere Grammatik gelehrt. Da ließen sie mich nicht so reden, wie ich wollte. Wenn ich im Kollektiv kochte, hatte ich totale Redefreiheit, und es war ein tolles Gefühl, zu sehen, dass meine Botschaft bei den Leuten ankam. Andererseits gab es dort eigentlich keine Entfaltungsmöglichkeiten. Mit ein paar alten Pfannen und Töpfen, einem Ofen ohne Grillfunktion, ohne Umluft... konnte man einfach keine großen Sprünge machen. In der Schule war es genau das Gegenteil: viele technische Mittel, aber kein Spaß. Essen wurde dort nicht so zelebriert, wie es es eigentlich verdient hätte. Die anderen Schüler wollten nur wissen, wie du den oder jenen Geschmack, eine bestimmte Konsistenz oder Farbe hingekriegt hattest, um es dir dann bei der Prüfung nachzumachen. Die Lehrer wollten nur immer ihren Stoff durchnehmen und keinen Fingerbreit von ihrem Lehrplan abweichen. Außerdem waren sie immer sehr dahinter her, dass man vernünftig mit den „Ressourcen”, wie es hieß, umging. So was brachte mich auf die Palme. Ich vergaß immer die Zeit. Ich vergaß, was ich an „Ressourcen” verbrauchte. Ich scheute keine Mühen und sparte nicht an Zutaten. Kochen war für mich wie die Liebe: totale Hingabe; ansonsten brauchte ich gar nicht erst anzufangen. Bei meiner Stimmung in Bezug auf die Schule kann man sich ja leicht vorstellen, wie ich mich erst in der Industrieküche von „Gewürze Formosa” fühlte. Und das, wo doch Peter Silie so stolz auf das Labor war, das ich laut ihm im Mund trug und das dazu diente, Rezepturen für Fertiggerichte auseinanderzuklamüsern. Für ihn war es ein harter Schlag, als ich dort wegging. Es tat mir auch leid für ihn, aber gleichzeitig war es auch wieder gut für den alten Enrique. Der konnte wieder nach Belieben schalten und walten. Und mir öffnete Johannes Freibier die ganze Welt. Was er für mich tat, war unglaublich.
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