Johannes Freibier
Ehrlich gesagt, stimmte das, was mir mein Bekannter, der Lehrer, erzählt hatte: Ferrmín hatte einen etwas schwierigen Charakter. Ja, am Anfang wirkte er ziemlich schüchtern, lächelte immer freundlich und war äußerst höflich. Aber wenn es dann mal nicht so lief, wie er wollte, wurde er plötzlich unausstehlich. Ich meine: nicht, dass er rumgeschrieen oder richtig Rabatz gemacht hätte. Er wurde nur extrem dickköpfig, und dann war nichts mehr zu machen. Er verhielt sich wie ein kleines Kind; hätte nur noch gefehlt, dass er einen Flunsch gezogen oder gedroht hätte, er würde auf der Stelle aufhören zu atmen. Das Einzige, was in solchen Situationen half, war, ihn mit Lob aufzumuntern, ihm zu sagen: „Ja, Fermín, ganz wie du willst.“ Und: „Wirst sehen, du schaffst das.“ Und das lohnte sich auch, weil, wenn dann mal alles wie am Schnürchen lief, er nicht nur in der Küche wahre Wunder vollbrachte, sondern auch im persönlichen Umgang der liebenswürdigste Mensch der Welt war. Am Anfang stellte ich ihn als Chefkochgehilfen in meinem Restaurant „L'Esprit” an. Eigentlich hätte er von ganz unten anfangen sollen, weil er noch viel zu lernen hatte, aber bei diesem Ego und mit einem so großen Anerkennungsbedarf... In diesem Restaurant stand Javier Huéspedes am Herd. Nach zwei Wochen rief er mich total sauer an und stellte mich vor die Wahl, entweder Fermín zu feuern oder auf seine (also Javiers) Dienste zu verzichten.
X
„Ich kann das nicht. Ich werd's auch nie können. Hätte lieber weiter im Lager arbeiten sollen.”
Die Pfanne landete mit lautem Geschepper auf dem Herd, während Fermín allem Anschein nach am liebsten mit der selben, zur Faust geballten Hand, die grade den Pfannengriff losgelassen hatte, das Kochgeschirr entzwei geschlagen hätte. Mit dem Daumen und dem Ringfinger der anderen Hand rieb er sich die Augen.
„Mir steht's bis hier!”
Kochmütze und Schürze, die er sich wie einen zu engen Pullover über den Kopf auszog, landeten zusammengeknäult in der Spüle. Johannes legte ihm einen Arm um den Rücken und schob ihn mit Nachdruck durch die Tür zur Speisekammer. Dort packte er ihn an den Schultern und drängte ihn gegen das Gemüseregal. Er neigte den Kopf leicht nach vorne und musterte ihn von oben bis unten aus seinen von den buschigen Brauen fast verdeckten Augen.
„Hör mal: So geht's ja nun nicht! Schau mich gefälligst an! Du hast eine goldene Zunge und ich hab dich nicht dort rausgeholt, wo ich dich rausgeholt habe, damit du jetzt wegen einer Kleinigkeit hinschmeißt, ja?! Ich weiß, du kannst es. Glaub's mir.“
Er schüttelte ihn nochmal an den Schultern. Das Regal ächzte, und ein paar Zwiebeln fielen herunter und kullerten über den Boden. Johannes stoppte sie mit den Füßen.
Javier Huéspedes
Was bildete sich dieser Rotzlöffel eigentlich ein? Nichts gegen die junge Generation, nichts gegen die Erneuerung der Kochkunst und all das, was damals so in Mode kam. Aber mir erklären zu wollen, mir, der ich seit mehr als zwanzig Jahren im Geschäft war, wie man ein Hühner-Paprika-Frikassee macht, also wirklich! Da wollte er doch tatsächlich die gute alte rote Paprika ersetzen durch eine Paprika-Palette jeglicher Art und Farbe, mit verschiedenen Garungsgraden... also ich muss schon sagen! Und als ich nein sagte und dass er sich diese Ideen aufsparen solle, bis er wirklich kochen könne und sein eigenes Restaurant hätte, da haute er total verärgert ab und suchte Trost an den Rockzipfeln seiner Freundin. Ich sag das jetzt nur so, denn eigentlich war sie nicht so eine, die Röcke trug. Ist ja auch egal. Jedenfalls fing er danach genauso wieder an: immer mit seinen „innovativen” Ideen, die weder Hand noch Fuß hatten. Ich hatte ihn im Grunde genommen schon am ersten Tag, als er ins „L'Esprit” kam, durchschaut. Am Anfang sagte ich nichts, weil ja Johannes das Sagen hatte. Aber alles hat seine Grenzen. Und trotzdem hab ich das Ganze zwei Wochen mitgemacht, zwei Wochen! Einen anderen wie ihn hätten wir schon nach zwei Tagen entlassen. Also wirklich! Wir waren ja schließlich in der Küche eines renommierten Restaurants –bei uns verkehrten wichtige Leute– und nicht in einer Werkstatt für experimentelle Kunst.
Fermín
Dieser Typ war einfach ein alter Knacker mit seinem: „Das haben wir schon immer so gemacht und wenn's dir nicht passt, musst du dich eben damit abfinden.“ Und obwohl ich innerlich am Kochen war, dachte ich mir, dass das mit der Schule erst kurze Zeit her war und ich vielleicht keine zweite Chance bekommen würde, und deswegen fand ich mich damit ab. Wenn auch nicht viel anderes, aber seine Techniken hatte er drauf, der Alte, und da hab ich mir gesagt: Halt den Mund und schau dir was davon ab. Er hat aber alles mit so kühler Berechnung gemacht und sich darauf beschränkt, die Regeln und Vorschriften dessen anzuwenden, was er als „gutes Kochen” bezeichnete. Er kochte so, als wäre er Ingenieur: Formeln über Formeln, Ursache-und-Wirkung, in dem Stil eben. Uff, ich konnte sowas nicht. Außerdem, was nützten mir die ganzen technischen Möglichkeiten, die es im „L'Esprit” gab, wenn er sie mich nicht benutzen ließ? Da ging's mir eigentlich vorher besser, mit den Kumpels vom Kochkollektiv, die zwar arm waren, aber nicht diese bescheuerte Beschränktheit hatten. „Immer mit der Ruhe, Fermín, ich weiß, dass du zu mehr als dem hier taugst. Wirst schon sehen, das wird schon alles.“ Das war immer die Reaktion von Nadia, wenn ich mich mal wieder beklagte. Ich hab auf sie gehört und, anstatt mich offen mit dem „großen Oberhäuptling” anzulegen, setzte ich auf Geheimaktionen. Und obwohl er immer höllisch aufpasste, schaffte ich es doch, ihm ein paar von meinen Sachen unterzujubeln. Und natürlich war er sich dann nicht zu schade, die Komplimente der Kunden entgegenzunehmen für diese „neuen und überraschenden kulinarischen Erlebnisse”, wie mir der Oberkellner erzählte. Vom Chef selber hörte ich natürlich kein Wort darüber. Im Gegenteil, er versuchte weiterhin, mich total runterzumachen. Der arme Alte, man merkte schon, dass mit ihm nicht mehr viel los war.
Johannes Freibier
Ich hab schnell gemerkt, dass in Fermín ein richtiger Künstler steckte. Eigentlich extrem empfindlich, aber stark und genial, wenn ihn die Muse küsste. A propos, genau dort lag seine Schwäche: Ohne seine Muse war er, ehrlich gesagt, rein gar nichts. Nachdem ich ihn aus dem „L'Esprit” wieder rausgeholt hatte, nahm ich ihn in die Hauptstadt mit, damit es nicht zu Streit und Neidereien mit meinen Beschäftigten vor Ort käme. Nadia blieb in der Provinz, und nach zwei Tagen war von meinem Künstler nur noch ein durchschnittlicher Küchengehilfe übriggeblieben. Er versuchte das natürlich zu vertuschen; er schaffte es sogar, sich eine Riesenerkältung zuzulegen, damit er eine Ausrede fürs Nicht-Kochen hatte, aber mir konnte er nichts vormachen. Ihm machte der Schnupfen in Wirklichkeit überhaupt nichts aus. Was ihm fehlte, war schlicht und einfach die Inspiration. Ich ließ Nadia mit dem nächsten Flugzeug nachkommen.
Nadia
Fermín ist jemand, der viel Unterstützung und Verständnis braucht. Davon kann ich ein Lied singen! Und im „L'Esprit” wollte der Alte im Grunde genommen niemanden, der ihm das Wasser reichen konnte, und schikanierte Fermín deshalb die ganze Zeit nur. Außerdem war er für Experimente einfach nicht zu haben. Aber Herr Freibier wollte es mit Fermín versuchen und beschloss, dass es das Beste sei, Fermín hier rauszuholen, weil es in der Hauptstadt mehr Freiraum gab für einen „Kochtopf-Irren”, wie er ihn inzwischen nannte. Alles kam so plötzlich, dass wir nicht einmal Zeit hatten, zu entscheiden, was mit uns werden sollte. Ich blieb erst einmal hier. Aber schon wenige Tage nach seiner Abreise rief Fermín mich ständig an: Er vermisse mich so, ohne mich schaffe er das alles nicht. Herr Freibier zahlte mir den Flug. Und mir-nichts-dir-nichts bewohnten Fermín und ich dann eine kleine Wohnung in einem der alten Viertel der Hauptstadt. Kaum zu glauben! Es lief alles wie am Schnürchen: Fermín bekam freie Hand für seine Experimente in der Küche. Johannes, ich meine Herr Freibier, schien es wirklich ernst zu meinen. Er stelle Fermín sogar ein Team von, sagen wir, technischen Experten zur Verfügung. Ich bekam dabei den Auftrag, mich um alles, was mit den Gewürzen zu tun hatte, zu kümmern, und außerdem assistierte ich beim Garnieren der Gerichte. Zwei Wochen lang kochten wir wie die Irren in unserem, von uns selbst so getauften „Institut für Gastronomische Forschung”, das wir auch einfach kurz „Labo” nannten. Und dann waren wir auch schon bereit für die Premiere von Fermíns erstem Menü im neuen Restaurant, das die „Die Werkstatt” hieß, aber eben auf Französisch, weil das angeblich vornehmer klang. Die potentiellen Kunden waren ja im Grunde genommen auch nicht gerade Mechaniker von Beruf. Am Anfang, hauptsächlich, wenn ich an meine Kumpel vom anarchistischen Kochkolletiv dachte, fühlte ich mich bei so viel Rang und Namen nicht besonders wohl. Aber dann dachte ich mir: Na und? Diese Leute müssen ja auch jeden Tag aufs Klo, wie jeder normale Mensch. Und als ich dann ein paar von ihnen kennen gelernt hatte, stellte sich heraus, dass sie sogar ganz nett waren. Ich fand auch schnell einen Weg, mein schlechtes Gewissen zu beruhigen: Vom ersten Abend nach der Eröffnung an brachte ich jeden Tag, nachdem wir geschlossen hatten, die Reste in eine der Armenküchen. Nun gut, es waren nicht mehr als ein paar Überbleibsel, aber auf diese Weise konnten jeden Tag einige wenige arme Leute der Stadt besser essen als die gesamte Mittelschicht zusammen.
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