Wenn sie nicht mit Theobald und einer handvoll Gleichgroße in der kalt feuchten Stätte mal wieder Verstecken mit dem Pfarrer spielte, der davon nie etwas bemerkte, ging Sophie alleine zu diesem düsteren Ort. Beherzt suchte sie Gott zwischen den langen Holzbänken, hinter dem Altar sollte sie ihn auch nicht finden, nicht auf der Empore, nicht hinter der Orgel. Nirgendwo ein Gott zu sehen. Mit leichtem Schauder ging sie nach und nach an jede einzelne auffindbare Tür, die sie stets langsam öffnete und vorsichtig hinein luckte. Hinter den Türen verborgen fand sie spärlich eingerichtete Räume, als würden sie das Nichts beherbergen, zumindest aber die Belanglosigkeit. Jedesmal war es eine Enttäuschung, die sie dennoch beruhigte, da sie letztlich nicht genau wusste, was zu tun wäre, wenn sie dem allmächtigen Wesen endlich gegenüber stand. Auf die Knie fallen? Doch auf der linken Seite, dort wo immer die Frauen saßen, da gab es eine Tür die unverschämt verschlossen blieb. Als sie längst jeden Winkel der Kathedrale kannte, zog es sie immer wieder genau da hin, hin zu dieser einen Tür. Irgendwer schien ihre Ausdauer zu belohnen, an dem Tag, an dem die sonst so beharrlich verschlossene Tür sperrangelweit offen stand.
Diese Tür war tatsächlich anders als die anderen, denn dahinter verbarg sich kein Raum, sondern eine Treppe. Eine schmale steinerne Treppe nach unten, mitten hinab in das Dunkel. Mit stockendem Atem, rasendem Herzschlag schlich Sophie die Treppe hinunter, stieg hinab in einen Gang. Eine Hand an dem feuchten Gemäuer tastete sie sich vor, noch tiefer hinein in das Dunkel, immer weiter hinein in dieses Verlies merkte sie nicht, wie das Licht sich bedenklich verdünnte. Plötzlich schlug eine Tür. Die Tür. Jetzt erst war sie klar und deutlich zu sehen, die Finsternis, Sophie schaute ihr gradewegs ins Antlitz. Augenblicklich fing sie an zu schreien, lauter als sie konnte.
"Was zum Teufel?", schrie der Pfarrer, der die Tür sofort wieder öffnen sollte. Immer noch schreiend rannte Sophie die Treppe nach oben, schreiend aus der Kahtedrale. Gott hatte sie an diesem Tag nicht gefunden, aber immerhin die Pforte zur Hölle. Die Hölle war also wirklich wahrhaftig dort unten. Genauso wahrhaftig wie dieser schmale, dunkle Gang der zu jenem Bunker führte, in dem sich einst ihre Mutter geängstigt hatte, wegen einer ganz anderen Hölle dort oben.
Besonders die unheimlichen Orte üben eine unwiderstehliche Anziehung aus, aber um diese Tür sollte Sophie vorerst einen Bogen machen. Stattdessen schlich sie auf ihrer andauernden Suche nun um die Kathedrale, außen herum, dort gab es auf einer Seite auch einen Gang, nicht ganz so feucht, schmal und dunkel. Am Ende des Ganges, in einem Spalt in der Mauer, waren Stufen eingelassen, wieder eine Treppe, diesmal nach oben. Hinauf zum Friedhof. Irgendwie unheimlich lag dort ihr Opa unter einem Stück Erde in der ein schmächtiges Holzkreuz steckte, ein paar wenige waren unter schweren Steinen begraben. Hier sollte sie öfter auf einer Bank sitzen, von der aus sie fast alles überblicken konnte, wie damals als er noch lebte, schaute sie aufmerksam einem geschäftigen Treiben zu. Zwischen den Gräbern huschten entrückte Gestalten umher, die mal hier stehen blieben, mal dort, manche knieten, gruben dabei ihre Hände tief in den Boden, um das Grünzeug zu richten, vielleicht aber um ihren Lieben näher zu sein. Und sie tuschelten unentwegt miteinander oder mit den Toten. Bisweilen saß Sophie dort wartend, vielleicht würde ja irgendjemand seiner Grube entsteigen, um in der Kathedrale durch die Pforte zu gehen oder schnurstracks gen Himmel zu fahren.
"Vor denen da unten, brauchst du keine Angst zu haben." Der Rat kam ungefragt. "Es sind die Lebendigen, vor denen du dich fürchten musst." Diese entrückte Gesalt war unvermittelt neben ihr aufgetaucht. Sophie sagte nichts, sie blieb einfach still sitzen. Die Gestalt strich ihr über den Kopf, nahm ihr behutsam die pompöse Schleife aus dem Haar, betrachtete diese sorgfältig und gab sie sodann zurück. "Das musst du nicht auf dem Kopf tragen."
Ohne ein weiteres Wort verschwand die alte Frau, die nicht wie die anderen eine Schürze trug, sondern umhüllt war, von einem langen schwarzen Kleid, vom hoch zugeknöpften Kragen bis auf den Boden. Einzig eine silberne Brosche, wie eine offene Blüte, durchbrach das tiefe Schwarz. Es war Sophies Großmutter, die unweit der Kathedrale in einem Knusperhäuschen wohnte. Eine seltsam anmutende Gestalt, die sie eines Tages schwarze Witwe nennen sollte.
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