Am nächsten Morgen stand Marge wie gewöhnlich auf, ging in Mary-Roses Zimmer und wollte sie wecken, als das unberührte Bett sie daran erinnerte, daß Mary-Rose nicht da war. Marge schleppte sich zurück ins Bett. Ihr Mann stand erst später auf. Sie konnte also noch mindestens eine Stunde schlafen.
Als sie beide dann später beim Frühstück saßen, kam Elvira vorbei. Als sie ihren Kaffe und einen Pfannkuchen hatte, begann sie zu erzählen:„Macht Euch keine Sorgen. Die Nacht ist gut verlaufen. Myrna hat sogar ein wenig geschlafen.“
„Und Mary-Rose,“fragte der Reverend.
„Hat sich heute Morgen gewaschen, zwei große Tassen Kaffee getrunken und ist zur Schule gegangen. Isaiah hat sie begleitet und mit der Lehrerin geredet.“
„Die Colts.“Es war keine Frage. Marge wußte, was los war.
„Natürlich,“antwortete Elvira,„und sie war auch nicht bereit, sie abzulegen. Sogar in der Badewanne lagen beide Colts in Griffweite.“
„Und sie hat nach der Kanne nochmal zwei große Tassen Kaffee getrunken?“Da sprach auch der besorgte Vater.
„Absolut,“lachte Elvira kurz,„und das wird auch höchstens bis zum Ende der Schule vorhalten. Heute Nacht schläft sie zumindest.“
„Ob gut, wird sich zeigen,“kommentierte Marge skeptisch.
„Wie geht es Myrna?“fragte ihr Mann.
Elvira blickte auf die Tischplatte:„Sie hat geschlafen und gefrühstückt, redet aber nur das Nötigste. Ich denke, sie verschließt einfach die Augen vor gestern.“
„Vielleicht kann sie bald nicht mehr die Augen verschließen.“
Zuerst wußte Elvira mit diesen Worten nichts anzufangen, bis sie begriff:„Oh, Gott! Nicht auch noch das!“
Marge warf ihrem Mann einen verweisenden Blick zu, aber Elvira hatte sich schon wieder gefangen:„Laß ihn, Marge. Er hat ja Recht. Ich habe nur Angst um Myrna.“
Marge nahm ihre Hand:„Wenn es Myrna hilft, kann Mary-Rose für die nächsten paar Tage bei Euch bleiben.“
Elvira schüttelte den Kopf:„Isaiah und ich werden abwechselnd wachen.“Sie lächelte gequält.„Ich weiß ja, wie man mit einem Gewehr umgeht.“
Mary-Rose saß in der Schule neben ihrer Freundin Marjorie, eifrig darum bemüht, sich nicht allzuviel zu bewegen. Miss Blake achtete sehr auf Disziplin und im Moment konnte jeder hören, wenn Mary-Rose sich bewegte, denn … ihre Colts klapperten auf der Sitzbank.
Die erste Stunde war kein Problem gewesen, aber junge Mädchen können eben nicht den ganzen Vormittag absolut still sitzen. Und so war Miss Blakes Blick immer strenger geworden, ohne daß Mary-Rose etwas dagegen tun konnte, und an einem ganz bestimmten Punkt wußte sie, daß die Explosion jetzt kommen mußte.
„Mary-Rose!“Nur dieser Name, aber der Ärger war unüberhorbar, und die Angeklagte duckte sich schon in Erwartung des Urteils. War es das oder etwas in Mary-Roses Gesicht, auf jeden Fall beherrschte Miss Blake sich, und der Ton wurde milder:„Lege bitte die Colts auf den Tisch, damit sie nicht so klappern.“Mary-Rose beeilte sich, der Aufforderung nachzukommen, und so lagen die beiden Revolver jetzt vor ihr auf dem Tisch.
Das ging ungefähr eine Viertelstunde gut, bis Marjorie schließlich völlig verängstigt den Arm hob.
„Ja, Marjorie?“fragte Miss Blake.
„Kann Mary-Rose die Colts bitte wieder vom Tisch nehmen?“fragte Marjorie ganz leise.„Sie machen mir Angst.“
Miss Blake überlegte offensichtlich einen Augenblick lang, ob sie sich ärgern oder lächeln sollte. Schließlich gewann das Lächeln die Oberhand und sie nickte Mary-Rose zu, die ihre Waffen sofort wieder in die Holster steckte. Danach ignorierte Miss Blake das Geklapper für den Rest des Tages.
Bevor sie die Schule verließ, ging Mary-Rose noch zu Miss Blake.„Danke!“sagte sie.„Und ich finde für morgen eine bessere Lösung.“
Miss Blake strich ihr über den Kopf:„Das wirst Du bestimmt, Mary-Rose.“
Als sie dem Mädchen hinterhersah, war sie froh, daß der Tag vorüber war. Es war nicht leicht, Unterricht mit einer gewissen Autorität zu erteilen, wenn eine der Schülerinnen zwei geladene Sechsschüsser bei sich hatte. Allerdings mußte es wohl für Mary-Rose noch schwieriger sein, zur Normalität zurückzufinden, an Myrna wollte sie dabei garnicht denken.
Mary-Rose war schon fast an der Haustür, als sie die reifen Äpfel am Baum neben der Kirche bemerkte. Einer hatte es ihr besonders angetan, hing aber mindestens 10 Fuß zu hoch. Man müßte …
Marge Robinson schreckte hoch, als sie den Schuß aus Richtung der Kirche hörte. Sie rannte aus dem Haus, prallte dabei mit ihrem Mann zusammen und wollte gerade um die Ecke sprinten, als Mary-Rose mit einem Apfel im Mund daherkam, offensichtlich überrascht über die Aufregung ihrer Eltern.
„Ist Dir was passiert, Kind,“fragte Marge.
„Nein. Wieso?“fragte Mary-Rose.
„Der Schuß,“erklärte ihr Vater.
„Ach, so,“begriff Mary-Rose und zeigte den Apfel.„Der Apfel hing mir zu hoch, und Mr. Clayton hat doch gesagt, daß ich üben muß.“
Ihr Vater nahm den Apfel und besah ihn. Er war exakt am Stiel abgeschnitten, wie geplückt. Er zeigte es seiner Frau, die jetzt endlich begriff.
„Komm‘ 'mal mit,“sagte er zu Mary-Rose, ging mit ihr zurück zum Baum und zeigte auf einen anderen Apfel, der noch höher hing.„Hol‘ mir den vom Baum!“
Mary-Rose schaute zweifeln vom Vater zur Mutter, und als beide nickten, die Mutter gequälter als der Vater, zog sie die Waffe und schoß, ohne groß zu zielen. Einen Augenblick später hielt ihr Vater den Apfel in der Hand und ihre Mutter sich noch immer die Ohren zu. Ihr Vater besah sich auch diesen Apfel, schüttelte den Kopf, biß hinein und ging wieder an seine Arbeit. Mary-Rose lud nach und ging zum Haus, während sie ihren Apfel mit den Zähnen festhielt. Marge blieb nichts Anderes übrig, als ihr zu folgen.
Im Haus nahm Mary-Rose ihren Hut ab, ging zum Küchentisch und fing ihre Hausaufgaben an, für die sie etwa zehn Minuten brauchte. Ihre Mutter kontrollierte kurz und war zufrieden. Mary-Rose hatte eine sehr schöne Handschrift, die nur manchmal etwas litt, wenn sie sich zu sehr beeilte. Heute war alles in Ordnung. Es war wirklich wenig gewesen.
Dann packte Mary-Rose ihre Schulsachen weg und setzte sich ans Klavier. Sie übte ein relativ schwieriges Stück, und an der Stelle, wo sie immer Schwierigkeiten mit Takt und Rhythmus bekam, nahm sie plötzlich einen ihrer Colts am Lauf und klopfte an den Hocker, während sie mit der anderen Hand übte. Nachdem die Melodiehand klappte, steckte sie die Waffe wieder weg und übte die Begleithand an der Melodiehand. Morgen würde dieser Taktmesser gekauft, koste er, was er wolle!
Schließlich war es Zeit, sich zu Tisch zu setzen. Mary-Rose wusch sich die Hände und deckte den Tisch, wie immer. Als das Tischgebet gesprochen und das Essen ausgeteilt war, aß sie mit großem Appetit.
„Wie war’s in der Schule?“fragte ihr Vater.
„Ziemlich komisch, Dad.“
„Warum?“
„Miss Blake war böse, weil meine Colts immer so klappern, wenn ich mich bewege,“erzählte Mary-Rose lebhaft,„und sagte, ich solle sie auf den Tisch legen.“
„Und dann?“fragte ihre Mutter.
„Dann hatte Marjorie Angst vor ihnen, und ich mußte sie wieder wegstecken.“Erzählte Mary-Rose da wirklich wie ein Mädchen von seinen Schulerlebnissen. Marge war sich da nicht so sicher.
„Nach der Schule,“fuhr Mary-Rose fort,„habe ich Miss Blake versprochen, eine andere Lösung zu finden.“
Marge bat ihren Mann mit einem flehenden Blick, sich der Sache anzunehmen.
„Und wie hast Du Dir das gedacht?“fragte der.
„Hast Du noch die Hosen, die Du für meine Cousins genäht hast, und die dann nicht paßten, Mum?“
„Ja, warum?“fragte Marge verständnislos.
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