»Ihr müsst nämlich wissen, mein Neffe ist der Retter in der Not. Ich habe zum wiederholten Male an meiner Musikanlage einen falschen Knopf gedrückt und alle Programmierungen gelöscht. Dabei ist er ein vielbeschäftigter Mann. Er hat mehrere Jobs, um ganz schnell reich zu werden, haha.«
»Weniger deshalb, als meine Miete zahlen und mir einen gewissen Lebensstandard gönnen zu können. Mit einem Job kommt man ja heute nicht mehr weit.«
»Das kommt ganz auf die Ansprüche an«, bemerkte ein Jüngling, der neben Ernst saß.
»Richtig, und ich liebe nun mal Markenartikel und bequeme Wagen«, lachte Mike. »Ich lasse mich gerne für Nachtdienste, Wochenend- und Feiertagsschichten einteilen. Das zahlt sich aus bei den entsprechenden Zuschlägen.«
»Aber in der Bibel heißt es: Du sollst den Tag des Herrn heiligen. Gedenke des Sabbattages, indem du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes «, betete fast wörtlich eine Frau, die Mike gegenüber saß, das 4. Gebot herunter. » Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht der Fremdling, der in deiner Stadt lebt. Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der Herr den Sabbattag und heiligte ihn. «
»Mit dem Fremdling, der in meiner Stadt lebt, müssen wohl die Türken und Araber gemeint sein«, feixte Mike. »Die nehmen es mit den Ladenschlusszeiten nicht so genau und sind oft die Einzigen, die auch sonntags geöffnet haben.«
»Mach dich bitte nicht über Hildegard lustig«, rief Ernst Mike zur Ordnung. »Die Zehn Gebote Gottes sind eine ernstzunehmende Lebensgrundlage, die nach wie vor ihre Gültigkeit hat.«
»Tue ich ja nicht, Onkel Ernst. Ich bin eben nicht so fromm wie du und deine Freunde hier. Aber trotzdem komme ich ganz gut durchs Leben, ohne anderen wehzutun. Im Gegenteil, wer sonntags oder nachts an der Tankstelle einkaufen oder am Wochenende ein Video ausleihen will, dankt es mir. Außerdem möchte ich daran erinnern, dass der Sabbat im Judentum der siebte Wochentag, also der Samstag ist, ein Ruhetag, an dem keine Arbeit verrichtet werden soll. Im Christentum hat der Sonntag den Sabbat nur abgelöst.«
»Dem geht man am besten aus dem Wege, indem man an beiden Tagen nicht arbeitet«, ereiferte sich eine andere Dame.
»Nun, die Bestimmungen über die Sonntagsarbeit erlauben Arbeitnehmern, die in Not- und Rettungsdiensten, der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie bei der Feuerwehr beschäftigt sind, zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit an diesen Tagen zu arbeiten. Das ist gesetzlich festgelegt«, blieb Mike keine Antwort schuldig. »Und was ist mit den Krankenhäusern und den Einrichtungen zur Behandlung, Pflege und Betreuung von Personen? Den Gaststätten, Beherbergungsbetrieben, den Musikveranstaltungen und Theatervorstellungen? Die Videotheken haben doch nur die Kinos abgelöst, weil die Menschen auch an den Wochenenden unterhalten werden wollen.«
»Bisschen weit her geholt nicht? Wenn ich sie richtig verstanden habe, wollen sie sich mit ihrer Arbeit nicht in den Dienst der Menschen stellen, sondern vor allem gut verdienen«, attackierte ein älterer Mann Mike.
»Und was ist verkehrt daran? So haben alle etwas davon.«
»Was daran verkehrt ist, haben wir eben versucht, Ihnen klarzumachen.«
»Heutzutage werden menschliche Erfindungen und Errungenschaften über den einzigen wahren Gott gestellt. Es werden unverhältnismäßig viel Kraft, Zeit und Intelligenz für diese vergänglichen Dinge geopfert. Ursprünglich sinnvolle Dinge wie Geld, Fernsehen, Sport, Autos, Karriere, Hobbys und Urlaub werden zu wichtig genommen und über Gott gestellt. Mit zu großem Zeitaufwand führen sie von Gott weg und entwickeln sich zu Götzen«, ließ eine vom Alter her schwer einzuschätzende Dame nicht locker.
»Er kapiert es nicht, Gundula«, sagte Hildegard.
»Ich denke, dass muss jeder für sich selbst entscheiden, wie wichtig ihm die Zehn Gebote sind und ob er mit seiner Nichtachtung den Zorn Gottes auf sich zieht«, sagte Mike säuerlich. »Mir wird es hier jedenfalls jetzt zu dogmatisch, deshalb verlasse ich den trauten Kreis. Du kannst dich ja wieder melden, Onkel Ernst. Einen schönen Abend noch.« Damit stand Mike auf und verließ demonstrativ das Lokal.
»Er ist jung und hitzig und hat seinen Weg noch nicht gefunden«, bemerkte Ernst entschuldigend.
»Das berechtigt ihn nicht zu schlechtem Benehmen, vor allem dir gegenüber«, sagte Gundula. »Man merkt, dass er nicht in einem christlichen Haushalt aufgewachsen ist.«
»Jetzt tust du meinem Bruder und seiner Frau aber Unrecht«, widersprach Ernst. »Sie waren beide rechtschaffene, gottesfürchtige Menschen. Nur ab einem gewissen Alter entgleiten einem eben die Sprösslinge. Im Grunde genommen ist er ein anständiger Kerl.«
»Da kann man geteilter Meinung sein«, sagte Hildegard mit finsterer Miene.
Niemand am Tisch hatte auf Ella geachtet, die sich an der Diskussion nicht beteiligt hatte. Deshalb entging allen, dass sich ihre Züge mehr und mehr verhärtet und ihre Augen zu Schlitzen verengt hatten, wenn sie Mike ansah. Wenn Blicke töten könnten, wäre Mike jedenfalls nicht bis zum Ausgang gekommen.
Kommissarin Valerie Voss und ihr Kollege Hinnerk Lange waren im gemeinsamen Dienstwagen, einer dunklen VW Polo Limousine, nach Heiligensee unterwegs. Valeries heißgeliebter, von ihren Eltern übernommener, dunkelgrüner Karmann Ghia blieb im LKA zurück, weil sie ihn nur einsetzte, wenn sie und Hinnerk getrennt unterwegs waren. Hinnerk chauffierte, während Valerie auf dem Beifahrersitz ihren Gedanken nachhing. Als sich plötzlich ihr Handy bemerkbar machte, schaute sie kurz auf das Display und drückte dann das Gespräch weg.
»Meine Mutter hatte es mal wieder besonders eilig, mir etwas mitzuteilen, dabei habe ich ihr schon so oft gesagt, sie soll mich abends, und nicht während der Dienstzeit, anrufen.«
»Zwei Minuten, um sie auf heute Abend zu vertrösten, hättest du schon gehabt«, sagte Hinnerk.
»Würdest du das bitte mir überlassen?«, fragte Valerie scharf, um sich im nächsten Moment zu besinnen. »Entschuldige, war nicht so gemeint. Ich habe meine Mutter wirklich lieb, und mir ist bewusst, dass sie nach der Trennung von meinem Vater eine schwere Zeit durchmacht, doch ich bin nicht ihr Kindermädchen. Es wird Zeit, dass sie auf eigenen Füßen steht.« Den Nachfolgesatz: »Außerdem habe ich im Moment mit mir zu tun«, schluckte sie herunter. Dennoch hatte sie den Eindruck, ihn Hinnerk übermittelt zu haben.
»Sie hat sich sehr liebevoll um dich gekümmert, als … als es dir nicht gut ging …«
»Ja, ich bin ihr auch außerordentlich dankbar, aber die gemeinsamen Wochen waren dann doch beinahe eine Überdosis. Zuerst habe ich es genossen, wie damals als kleines Mädchen von ihr umhegt zu werden, dann ging mir ihre Fürsorge aber langsam auf die Nerven. Weißt du, was es heißt, als erwachsener Mensch vierundzwanzig Stunden mit seiner Mutter zu verbringen?«
»Leider nicht, weil ich meine schon sehr früh verloren habe, aber ich weiß, was du meinst. Und wenn sie wirk-lich in seelischer Not ist? In ihrem Alter muss es nicht leicht sein, den Mann an eine andere Frau zu verlieren.«
»Das ist in keinem Alter leicht. Man ist immer in der besseren Position, wenn die Trennung aus eigener Entscheidung erfolgt. Das klingt jetzt vielleicht ein bisschen hart … sie war auf einem so guten Weg, indem sie anfing, ihre neu gewonnene Freiheit zu genießen, endlich einmal etwas für sich zu tun. Ich habe sogar erreicht, dass sie meinem Vater jetzt wieder freundschaftlich begegnet, und bin mit ihr ausgegangen, damit sie auf andere Gedanken kommt und vielleicht einen anderen netten Herrn kennenlernt. Hat alles nichts genutzt. Manchmal denke ich, sie gefällt sich in der Rolle des Opfers.«
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