1 ...6 7 8 10 11 12 ...20 Lisa nickte wiederholt, weil sie das Problem zur Genüge kannte. Hartman hörte sich den Beitrag etwas gelangweilt an, spielte mit seinem Füller und schüttelte hin und wieder den Kopf, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass man die genannten Probleme nicht in den Griff bekommen könnte.
Robert ließ sich dadurch nicht beeindrucken und fuhr fort: „Beim Einfrieren und Wiederbeleben eines gesamten Körpers potenzieren sich die Probleme … Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass wir diese massiven Probleme jemals lösen werden. Der Mensch ist halt keine Maschine“.
Kleinknecht setzte sich aufrecht auf der Kante seines Stuhles und stützte beide Hände auf dem Tisch, als wolle er aufspringen. „Aber… so kann ich das nicht stehen lassen … Ich … Ich habe…“, stotterte er.
Hartman blickte ihn an. „Herr Kleinknecht, offensichtlich sind Sie damit nicht einverstanden“, warf er ein.
„Aber nein, natürlich nicht … Ich habe neuere Studien gelesen… in einer amerikanischer Zeitschrift.“
„Aha“, tat Hartman überrascht, „dann bin ich gespannt, was sie zu berichten haben … Kommen Sie nach vorn und schießen Sie los!“
Kleinknecht schritt hastig mit seinen Unterlagen ans Tischende, schaltete den Beamer an und warf das erste Bild seiner Präsentation an die Leinwand. „Ich glaube, dass es für jedes Problem eine technische Lösung gibt … Stellen Sie sich vor, wie wir noch vor hundert Jahren gelebt haben“, gab er sich philosophisch. „Ja, hätte jemand vor hundert Jahren behauptet, dass wir einmal ein Herz, eine Niere… oder sogar eine Leber transplantieren würden, hätten die meisten Wissenschaftler gelacht. Heute wissen wir, dass dies recht alltägliche Eingriffe sind. Deshalb glaube ich, dass wir für die Probleme der Kryokonservierung bald eine Lösung finden werden. Und ich glaube auch, dass wir in absehbarer Zeit Menschen einfrieren und wiederbeleben werden.“
Hartman nickte und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Richtig Herr Kleinknecht, das ist echter Pioniergeist und den brauchen wir in unserem Team“, ermutigte er ihn.
Lisa und Robert warfen sich fragende Blicke zu und ärgerten sich darüber, wie Kleinknecht sich aufspielte. Kleinknecht fühlte sich bestätigt und setzte noch eins drauf. Er faselte über den wahren Erfindergeist, über die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus und über das visionäre Bekenntnis von Kennedy zum ersten Mondflug.
Hartman schien richtig aufzuleben und seine Augen funkelten. „So reden Männer mit … äh … ich meine Männer, die Geschichte schreiben“, rief er voller Bewunderung aus.
Nun gänzlich entfesselt verriet Kleinknecht die neusten Blitze seines scharfen Geistes. „Eigentlich ist die Lösung des Problems bereits gefunden“, erklärte er theatralisch. „Wir müssen sie nur erkennen wollen, denn die Natur zeigt uns den Weg“.
Alle blickten ihn erwartungsvoll an, als würde gleich ein Wunder geschehen.
„Stellen wir uns vor, was passiert, wenn ein Regentropfen vom Himmel fällt und eine kalte bodennahe Luftschicht durchquert“, warf er in die Runde und folgte mit dem Zeigefinger einen imaginären Regentropfen, der vom Himmel fiel. „Ja…, dieser Wassertropfen kühlt blitzschnell ab, erreicht Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt, aber gefriert nicht! ... Unterkühltes Wasser heißt das.“ Kleinknecht ließ seine Worte wirken und schaute dabei gezielt Robert und Lisa an. Alle nickten, denn von dem Phänomen hatten sie schon gehört. „Und genau das werden wir mit dem Menschen tun“, rief er triumphierend aus. „Wir werden ihn blitzschnell abkühlen, sodass sich auch bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt keine Eiskristalle in den Zellen bilden. Das Verfahren heißt Vitrifizierung.“
Ein Mitarbeiter streckte die Hand und schnipste mit den Fingern. „Wie schnell läuft der Einfrierungsprozess?“
Kleinknecht überlegte und versuchte sich die neueren Studien in Erinnerung zu rufen. „Ja… erst werden die Patienten in einer Kühlbox bis auf minus 90°C abgekühlt, glaube ich… Dann erfolgt ein sogenannter freier Fall herunter auf minus 196°C, in dem der Körper in einen Stahltank mit flüssigen Stickstoff überführt wird.“
„Ach so“, wunderte sich der Mitarbeiter, „dann verzichten Sie ganz auf Kryoprotektoren.“
„Nein, nein“, korrigierte sich Kleinknecht, „natürlich wird erst das Blut entnommen und über die Aorta wird eine Perfusion mit einer Speziallösung auf Basis von Glycerin vorgenommen, damit die Zellen einen Teil des Wassers verlieren.“
„Haben wir überhaupt Erfahrung damit?“, warf ein anderer Mitarbeiter ein.
Kleinknecht blickte ihn von oben herab an. „Aber natürlich... wir arbeiten derzeit eng mit dem renommierten Institut für Kryologie in Chicago zusammen und übernehmen einen Teil der Forschung.“
Lisa und Robert schauten sich verwundert an und dachten das Gleiche. Robert fragte vorsichtig, wie weit denn die Forschung fortgeschritten sei. Kleinknecht meinte, dass die Testreihen mit Nieren in den USA so vielversprechend verliefen, dass es im Moment nur noch darum ginge, als erster eine zuverlässig Methode zu entwickeln, um ganze Körper einzufrieren. Hartman unterbrach die wieder auflebende Diskussion. Er erklärte, welche Forschungsreihen er gern im eigenen Betrieb durchführen möchte und bat Lisa, bis Ende des Monats einen Forschungsplan an Mäusen aufzustellen. Als die Sitzung eigentlich schon abgelaufen war, warf er noch ein Thema in die Runde. „Oh ja, da ist noch etwas!“ Er erklärte, dass einige Verträge der im Keller eingefrorenen Menschen bald ablaufen würden. Außerdem hätten Angehörige die Beendigung der Zahlungen vor Gericht erstritten. Auf Grund der Verträge sollte die Firma einen Versuch zur Wiederbelebung unternehmen. „Überprüfen Sie bitte Herr Kleinknecht, was erforderlich ist, damit wir unsere Verpflichtungen erfüllen. Wie Sie wissen, klagen Amerikaner gern gegen alles Mögliche.“ Kleinknecht nickte und notierte einen Vermerk für das Protokoll.
***
Die Straßenbahn führte Robert entlang eines prächtigen Boulevards im Süden der Stadt, der von großen Platanen gesäumt war. Er stieg aus und lief die kurze Strecke durch das Viertel, das zwischen 1860 und 1910 gebaut wurde. Lisa wohnte in einem zweistöckigen Jugendstilhaus mit Souterrain. Er klingelte und der Türöffner summte. Er ging hinein und betrat das Treppenhaus. Ein paar breite Marmorstufen führten zur Hochparterre und von dort ging eine Holztreppe hoch zu den oberen Stockwerken. Lisa stand oberhalb der Stufen, schaute ihn lächelnd an und empfing ihn mit drei dezenten Küsschen. Er gab ihr den Blumenstrauß, den er persönlich ausgesucht und binden lassen hatte. Sie strahlte. „Oh, rote Rosen!“, rief sie erfreut aus. „Rosen sind meine Lieblingsblumen… und rot mag ich.“ Er folgte ihr durch einen dunkeln Flur in die Küche. Sie suchte eine Vase, füllte diese mit Wasser und tat den Blumenstrauß hinein. Es duftete nach Essen, aber Robert konnte den Geruch nicht zuordnen.
Er schnupperte in die Luft und schaute sie neugierig an. „Was hast du gekocht?“
„Überraschung!“, tat sie geheimnisvoll, nahm ihn bei den Schultern und führte ihn vor sich hin aus der Küche heraus. „Du kannst den Wein schon aufmachen und dich umschauen. Du bist bestimmt neugierig, was bei mir herumsteht.“ Sie stellte die Rosen auf den Tisch und verschwand wieder in die Küche.
Er stand in einem Zimmer, das Ausblick in einen schönen Garten gab und als Esszimmer genutzt wurde. Eine doppelte Flügeltür führte auf eine Terrasse mit dem Garten dahinter. Hinter dem ersten Zimmer lag ein fensterloses Zimmer, das zusammen mit dem dritten Zimmer an der Straßenseite als Wohn- und Arbeitszimmer genutzt wurde. Zwei große, weiße, vierflügelige Türen mit vielen Glaseinsätzen und einem bunt verglasten Oberlicht trennten die drei Räume. Die Wände waren mit Holzvertäfelungen in unterschiedlichen Weißtönen verziert und prächtiger Stuck schmückte die Decke. Jedes Zimmer hatte einen Kamin in weißlichem Marmor. Auf dem Buffetschrank im Esszimmer entdeckte Robert ein Gipfelbild von vier Bergsteigern im Schnee. Sie trugen schwere Rucksäcke, hatte dicke Bergjacken an und streckten siegesbewusst ihren Eispickel hoch. Die zweite Person von rechts war Lisa. An der Wand hingen drei schwarz-weiß Porträtaufnahmen von Kindern. Neben der Fenstertür hatte eine große Palme einen Platz gefunden. In einer Ecke stand eine Standuhr mit einem Zifferblatt in Messing und mit einer Glastür, durch die man die Gewichte und das Pendel sehen konnte.
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