Robert nickte, legte seinen Arm um ihre Schulter, um sie zu trösten und sie erzählte weiter: „Am nächsten Morgen haben Polizisten mich befragt ... Sie beteuerten, dass meine Freunde bald wieder auftauchen würden.“
„Und sind sie wieder aufgetaucht?“
Sie schüttelte kurz den Kopf, wischte sich mit dem Arm die Tränen aus dem Gesicht und schniefte. „Nein, nein... am nächsten Tag wurde Anne gefunden … Sie war erschossen worden ... Von den anderen fehlte jede Spur.“
Er schaute sie bedrückt an. „Und hat man sie gefunden?“
„Nein, nicht gleich… aber am nächsten Tag meldete sich eine Terrorgruppe. Sie übernahm die Verantwortung für die Entführung und forderte die Freilassung der in Indien gefangen Islamisten.“
„Hm… Islamisten“, brummte er. „Kam der Tausch zu Stande?“
Sie winkte ab. „Nein… aber fünf Wochen später wurden auch die beiden Freunde von Jonas gefunden… tot ... Sie waren… enthauptet worden.“
„Und dein Freund?“
Sie zuckte mit den Achseln. „Er wurde nie gefunden … Er ist nun seit 7 Jahren verschollen.“
Er streichelte den Rücken ihre Hand. „Glaubst du, dass er noch lebt?“, murmelte er.
Sie schaute eine Weile in die Ferne, überlegte lange, seufzte tief und zog die Schultern hoch. „Ich weiß es nicht... aber ich glaube es. Auf jeden Fall warte ich immer noch auf ihn.“ Sie schaute schweigend auf ihren Teller, aß weiter und trank von ihrem Wein. Der letzte Brocken blieb ihr in den Hals stecken. Sie spülte ihn mit Wasser herunter und nahm den Faden ihrer Geschichte wieder auf. „Ich warte immer noch auf ihn ... Zu Anfang blockte ich jede Beziehung ab, doch dann wollte ich nicht mehr allein sein ... Ich sehnte mich nach Nähe, doch immer am gleichen Punkt angekommen, war es mir zu nah … Ich hatte immer das Gefühl, er würde daneben stehen… und zuschauen. Ich schämte mich so.“
Er überlegte kurz und nickte langsam. „Hattest du das Gefühl, ihn zu verraten?“
Sie nickte entschlossen. „Ja, ja, verraten … Das ist es… verraten.“
„Waren es Schuldgefühle?“
Sie zuckte mit den Schultern. „Vielleicht … Vielleicht das Gefühl, ihn vorschnell aufzugeben.“
„Hm, ich verstehe“, murmelte er.
„Ich habe Angst, diesen Frust erneut zu erleben... Verstehst du?“
Er fasste sie bei der Hand. „Lisa... du kannst dich nicht ewig verstecken.“
Sie nickte zustimmend. „Ja, du hast mich aufgeweckt.“
„Ich?“, staunte er. „Wie meinst du das?“
„Das, was du mir gestern im Keller gesagt hast, lässt mich nicht mehr los. Mir war plötzlich klar, dass die Stahltanks auch mit mir zu tun haben.“
„Mit dir?“, wunderte er sich.
„Ja... es ist so, als sei Jonas in einem solchen Stahltank eingefroren. Er ist nicht echt da, aber auch nicht richtig weg, doch ich richte mein ganzes Leben daran aus, dass er irgendwann wieder auftaucht. Den ganzen Nachmittag habe ich darüber nachgedacht, bis ich schließlich den Mut fasste, dich anzurufen.“
Dieser zutreffende Vergleich überraschte Robert. „Lisa, ich lass dich nicht im Stich“, flüsterte er ihr zu, „du musst mir vertrauen.“
Ihr Gesicht klarte auf, sie entrollte das Papier mit dem Song und las den Text nochmals.
„Der Text ist so schlicht… aber er ist so voller Hoffnung … Ich vertraue dir.“
***
Als Robert am nächsten Morgen das Büro betrat, lag ein Umschlag auf seinem Schreibtisch. Er öffnete ihn und holte ein Foto heraus. Er hielt das Bild in beiden Händen und betrachte es. Auf dem Bild posierte eine junge Frau, angelehnt an die Reling eines Schiffes. Sie blickte schräg nach oben und ihr schelmisches Lächeln verriet, dass sie sich gerade über etwas amüsierte. Er berührte ihr Gesicht mit seinem Zeigefinger und schmunzelte. Es war Lisa, als sie noch jünger war. Hinter ihr lagen größere Holzboote im Wasser und verschneite Berge zeichneten sich vage im Hintergrund ab. Er drehte das Bild um. Auf der Rückseite stand mit dickem, schwarzem Filzstift das Wort Dal Lake . Er überlegte kurz und erkannte den tieferen Sinn dieser Botschaft. Er liebte diese poetische Bildsprache und die Frau, die sich das einfallen ließ.
Heute stand eine Einweisung zum Arbeitsschutz auf dem Programm und der zuständige Sicherheitsbeauftragte wollte ihn im Büro abholen. „Langweilig... das ist langweilig“, hatte Viktor ihn gestern gewarnt und hatte die Langweile so langweilig geschildert, dass Robert sich wünschte, es wäre schon Mittag. Es klopfte an der Tür und Lisa kam hereinspaziert. Sie lächelte und sie begrüßten einander mit einem Küsschen.
„Danke für die Rosen“, sagte er.
Sie nickte und grinste ihn schelmisch an. „Was steht bei dir heute Morgen auf dem Programm?“
„Äh… der Sicherheitsbeauftragte kommt, um mich einzuweisen. Er soll langweilig, schrecklich langweilig sein, habe ich mir sagen lassen.“
„Wann hätte er kommen sollen?“, fragte sie unschuldig.
„Oh, so um acht.“
Sie schaute auf ihre Uhr und zog die Augenbrauen hoch. „Ob der heute noch kommt?“
„Ja, es ist halb neun“, stellte Robert fest.
„Ich könnte ihn vertreten... wenn du möchtest“, sagte sie so dahin.
Er schaute sie an und lächelte breit. „Ja, ja… sag bloß, dass dir das jetzt erst einfällt.“
Sie lächelten sich an, umarmten einander und küssten sich.
Lisa zeigte Robert die Löschgeräte und die Fluchtwege. Dabei machten sie einen kleinen Rundgang durch das Gebäude. Zum Schluss stiegen sie in den Turm, der über die Hauptpforte ragte. Wie Kinder, die sich den ersten Platz streitig machen, rannten sie die schmale Treppe hoch, die nach oben auf die kleine Plattform führte. Oben angekommen waren sie beide außer Atem, schnappten nach Luft und fielen sich in die Arme. Robert bewunderte den Ausblick und ließ sich die verschiedenen Gebäude erklären. Oben auf dem Dach war ein kleines Kaffee und unten im Garten füllten sich die Tische des Restaurants bereits mit Mitarbeitern, die zum Mittagessen kamen.
„Oh, ich muss dir noch den Luftschutzbunker zeigen“, fiel ihr plötzlich ein. Sie rannten die Treppe wieder hinunter, nahmen auf der oberen Etage den Aufzug, der sie direkt in die Tiefgarage führte. Dort durchquerten sie eine Schleuse, an deren Ende eine offen stehende Panzertür in den Luftschutzbunker führte. Eine verstaubte 40-Watt Glühbirne leuchtete den Raum spärlich aus. „Wenn jetzt die Tür zuschlägt, hört uns niemand und wir sind für immer gefangen“, versuchte sie ihm Angst zu machen. Er lächelte. Das zentrale Zimmer, in dem sie sich befanden, diente als Küche und Aufenthaltsraum. Zahlreiche Türen mündeten in den Raum. Die meisten Räume waren Schlafzimmer mit Stapelbetten. Alles war furchtbar staubig und kein Mensch würde sich noch freiwillig in diese Betten legen. In den Schränken fanden sie Essensvorräte: Nudeln, weiße Bohnen in Tomatensoße und getrocknete Fertiggerichte in Dauerpackungen. Sie stellte fest, dass der Wasseranschluss noch funktionierte. Der Luftschutzbunker stammte aus der Zeit des kalten Krieges und wurde nie benutzt, doch Robert hatte keine Ahnung, dass dieser schäbige Ort ihm noch einmal das Leben retten würde. Er hatte genug vom kühlen, dunklen Luftschutzbunker, nahm Lisa bei der Hand und zog sie nach draußen. „Komm, Lisa, oben lacht die Sonne!“
Sie kauften sich belegte Brötchen zum Mittagessen und verzogen sich im Schatten eines Baumes im Garten vor dem alten Lagerhaus. Robert war bei den Erzählungen von Lisa und Viktor etwas aufgefallen und eine Frage brannte ihm unter den Nägeln.
„Hast du den Sohn von Koudenberg noch persönlich gekannt?“
Sie schaute ihn kurz an und senkte den Blick. „Jonas ist Koudenbergs Sohn … Ich hatte ihn bei einem Praktikum im Betrieb kennen gelernt.“
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