Hartman griff das nächste Thema auf: „Äh... Lisa... könnten Sie Herrn Ravenstein einarbeiten?“
Lisa warf einen kurzen Blick auf Robert, der sie freudestrahlend anschaute, und stimmte zu. Hartman schloss die Sitzung und sie standen auf und verließen das Zimmer.
Im Flur sprach Lisa Robert an: „Soll ich Ihnen die Leichen jetzt zeigen oder lieber nach dem Essen?“.
Robert schmunzelte. „Wenn Sie mir Händchen halten, schaffe ich die Leichen auch auf leerem Magen.“
„Schön... wie Sie wollen.“ Sie schüttelte ihm die Hand. „Übrigens, ich heiße Lisa.“
Sie öffnete die schwere Tür im Keller des Forschungszentrums und schaltete das Licht ein. Die Neonbeleuchtung flackerte langsam an. Der Keller war ein riesiger Raum, der die gesamte Grundfläche des Gebäudes umfasste. Zwischen den Betonpfeilern, die die Decke stützten, standen zahlreiche drei Meter hohe, zylindrische Edelstahltanks in endlosen Reihen eng nebeneinander.
Robert schaute Lisa verwundert an. „Wo sind denn die Leichen?“
„Die sind da drin“, sagte sie und zeigte auf die Stahlbehälter. „In jedem Stahltank eine Leiche.“ Er war sprachlos, doch Lisa half ihm auf die Sprünge: „Die Stahltanks stehen hier, seitdem wir mit der US-Firma Kryotechnics fusionierten“.
Es ging ihm ein Licht auf: „Hm... geht es vielleicht um Kryokonservierung?“.
Sie nickte. „Ja... in den USA lassen sich Menschen nach ihrem Tod einfrieren, weil sie glauben, dass ihre bis dahin unheilbare Krankheit später geheilt werden kann. Sie hoffen, dass sie irgendwann aufgetaut, behandelt und geheilt werden können.“ 4
„Das ist eine verrückte Idee“, rief er erstaunt aus. „Habt ihr schon einen Versuch unternommen, jemanden wiederzubeleben?“
Lisa schüttelte den Kopf. „Nein, nein... natürlich nicht ... Das ist heute einfach noch nicht möglich. Doch das scheint diese Menschen nicht zu stören, denn für etwas Hoffnung zahlen sie je nach Anbieter bis zu 200.000 Dollar, um sich einfrieren zu lassen. Für die Lagerung ihres Körpers in flüssigem Stickstoff fallen jährlich nochmals bis zu 650 Dollar an ... und das Jahrzehnte lang.“
Er schaute sie erstaunt an. „Für so etwas geben die Leute ihr Geld aus.“
Sie zuckte die Achseln und seufzte. „Ja, manche Leute haben wohl zu viel Geld.“
Sie gingen ein paar Schritte weiter und blieben stehen. „Koudenberg verwendet das Geld für sinnvolle Forschung“, erklärte sie. „Er entwickelt eine Methode, um einzelne Organen einzufrieren und aufzutauen.“
„Hm“, brummte Robert, „und wie weit seid ihr?“
Sie schaute ihn an und spitzte die Lippen. „Oh... es könnte uns bald ein Durchbruch gelingen. Auf jeden Fall ist dieses Ziel weit realistischer, als solche Techniken gleich an ganzen Körpern zu versuchen.“ Sie fuhr flüsternd weiter, als würde ihnen jemand zuhören. „Aber Hartman sieht dies anders … Er träumt von der Wiedergeburt dieser Leichen. Er glaubt, dass es ihm gelingen wird, Menschen einzufrieren und wiederzubeleben ... Er ist wie besessen von dieser Idee.“
Robert runzelte die Stirn, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass es Leute gab, die solch absurde Vorstellungen verfolgten, und andere, die bereit waren, solche Illusionen schonungslos auszunutzen.
Lisa blickte ihn fragend an. „Ist etwas nicht in Ordnung?“
„Nein, nein…“, wehrte er ab, „ich stelle mir nur vor, dass es Leute gibt, die auch am Tod noch Geld verdienen. Bisher hat man sich damit begnügt, die Lebenden auszunutzen.“
„Aber wir frieren hier niemanden ein“, rechtfertigte sie sich. „Diese Stahltanks kommen direkt aus den USA. Wir können die Leute nicht mehr lebendig machen, aber wir können sie auch nicht einfach auftauen und begraben … Schließlich sind wir an einem Vertrag gebunden.“
Er kratzte sich am Kopf und überlegte. „Für mich wäre es ein schrecklicher Gedanke, dass jemand, der mir lieb war, hier in einem Stahltank herumstehen würde, ohne dass ich wüsste, ob ich die Person jemals wieder sehen würde.“
Sie stutzte. „Wieso?“
„Naja... mein Leben wäre nur noch vorläufig ... Verstehst du?“
Sie schüttelte leicht den Kopf.
„Ja... all meine Entscheidungen wären dadurch belastet, dass die Person irgendwann wieder in meinem Leben auftauchen könnte.“
„Hm... so habe ich das noch nicht gesehen“, gab sie zu.
Sie hatte inzwischen kalte Füße bekommen und wollte gehen. Sie berührte ihn sanft am Arm. „Komm, Robert, lass uns gehen!“
Draußen hatte die Sonne die Luft kräftig aufgeheizt und es war schwül warm. Einige Wolken hatten sich bereits zu hohen weiß-grauen Stapelwolken aufgetürmt und warfen breite Schatten über die Landschaft.
Sie beschlossen im Restaurant des alten Lagerhauses, das über eine Außenterrasse verfügte, zu essen. Beim kurzen Spaziergang dahin erzählte Lisa über den Betrieb. Robert hörte ihr mit einem Schmunzeln im Gesicht zu, denn er mochte ihre warme Stimme und lebhafte Gestik, die ihre Worte begleiteten. Es fiel ihm auf, dass sie ihn hin und wieder unauffällig aus den Augenwinkeln beobachtete.
Im Restaurant fanden sie einen Platz an einem Tisch im Freien. Bald tauchte Viktor auf und schaute sich nach Lisa um, mit der er verabredet war. Sie machte auf sich aufmerksam und er setzte sich zu ihnen.
„Na, Robert, nun spannst du mir schon meine beste Freundin aus“, witzelte er, was bei Lisa und Robert ein breites Grinsen hervorrief.
Schon stand die Bedienung am Tisch, um die Bestellung aufzunehmen. „Heute haben wir Nieren in Sherry-Soße… Ri?ones al Jerez , ein Spanisches Gericht. Sehr zu empfehlen!“, pries sie das Tagesgericht.
„Ich nehme die Nierchen nur, wenn sie frisch aus deinem Labor kommen“, zog Viktor Lisa auf und sie lachten.
Die drei unterhielten sich und schauten überrascht hoch, als sie plötzlich Koudenbergs Stimme neben sich hörten. „Guten Tag, Herr Ravenstein, es freut mich, dass Sie so schnell Anschluss gefunden haben, sonst hätte ich Sie gern zum Essen eingeladen.“ Sie grüßten freundlich zurück. Neben Koudenberg stand ein Mann, den Robert noch nicht kannte. „Darf ich Ihnen noch Herrn Prof. Dr. Pfaff vorstellen“, sagte Koudenberg. „Er ist Betriebswirt in unserer Firma und Sie werden sicherlich noch Gelegenheit haben, ihn besser kennen zu lernen.“ Pfaff war ein etwas älterer Herr. Er trug einen kurzen, grauen Bart und kämmte seine grauen Haare vom Seitenscheitel quer über den Kopf, um seine Halbglatze zu verdecken. Nach einem kurzen Gespräch gingen Koudenberg und Pfaff weiter.
„Ach, der Herr Prof. Pfaff“, sagte Viktor etwas herablassend. „Er möchte hier gern Chef spielen, doch Koudenberg schiebt die Entscheidung über seine Nachfolge vor sich hin, weil er immer noch hofft, dass sein Sohn, der vor 7 Jahren verschwunden ist, wieder auftaucht.“
„Das ist schrecklich“, rief Robert aus. „Wie ist das passiert?“
Lisa seufzte tief und machte ein trübes Gesicht. „Das erkläre ich dir später noch ... Es ist eine sehr traurige Geschichte, die uns alle sehr mitgenommen hat.“
„Dem Pfaff traue ich nicht über den Weg“, fuhr Viktor fort. „Er redet oft im Fernsehen über Wirtschaft, doch meistens redet er Stuss.“
Nach dem Mittagessen waren alle wieder an die Arbeit gegangen. Robert hatte sich sein Büro zeigen lassen und war den ganzen Nachmittag mit Einräumen beschäftigt gewesen. Sein Büro lag an der Vorderseite des alten Lagerhauses mit direktem Ausblick auf den Kanal. Draußen braute sich ein schweres Gewitter zusammen, denn von Norden näherte sich eine pechschwarze Wolkenfront aus der lange Regenschleier niedergingen. Da er nicht durch den Regen Heim laufen wollte, studierte er im Internet den Verlauf der Metrolinien. Plötzlich klingelte das Telefon. Lisa meldete sich. „Soll ich dich Heim fahren? Du hast bestimmt nichts gegen den Regen dabei und gleich tobt ein gewaltiges Unwetter.“ Er war überrascht, als er ihre Stimme hörte und sehr gerührt über diese Aufmerksamkeit. Er nahm das Angebot an und sie verabredeten sich unten in der Tiefgarage.
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