An dem Abend zog es ihm nach draußen in die unbekannte Stadt, denn es war ein fremdes Gefühl, den Abend allein in einer kahlen Wohnung zu verbringen. Er ließ die Koffer und die vielen Umzugskartons stehen und ging auf die Straße. Bald stieß er auf den Königsplatz und zog von dort in die Innenstadt, die weiter unten lag. Zahlreiche Federwolken leuchteten orange am Himmel und der grazile Turm des alten Rathauses strahlte im hellen Licht zahlreicher Scheinwerfer. Unten am Großen Markt schlenderte er ziellos durch die schmalen Gassen, in denen viele Touristen bummelten oder an den Tischen speisten, die vor den kleinen Restaurants auf der Straße standen. An den Terrassen der Cafés genossen die Menschen den warmen Sommerabend bei einem kühlen Bier. Er traf auf die Börse, die mit ihren korinthischen Säulen einem griechischen Tempel glich, und folgte dem langen Boulevard, der die Innenstadt von Nord nach Süd durchquerte. Fast am Ende der Hauptstraße wunderte er sich über das laute nächtliche Gebimmel eines unscheinbaren Kirchturms, der sich hinter einer weißen Mauer und den umgebenden Gebäuden verbarg. Ein dunkelgrünes Metalltor, über dem in goldenen Buchstaben die Inschrift N.D du Finistère – O.L.V ter Finisterrae stand, führte in den Hinterhof der Kirche. Am Ende der Hauptstraße folgte er dem kleinen Stadtring bis zur Brücke über den Kanal und glaubte am Ufer die Silhouette des K&K-Gebäudes zu erkennen, in dem er sich am nächsten Morgen beim Firmenchef vorstellen sollte. Auf dem Rückweg fiel ihm eine größere Gruppe von Männern in Business-Anzügen auf, die durch das grüne Metalltor der Finisterrae-Kirche heraustraten und mit schnellen Schritten schweigend vor ihm her liefen. An der Börse schlugen sie links eine Seitenstraße ein und verschwanden in der Menschenmenge.
Er erzählte dem Vorsitzenden von diesen Männern, weil es ihm wichtig erschien.
„Was waren das für Männer?“, unterbrach ihn der Vorsitzende.
Robert fasste sich am Kinn und überlegte kurz. „Ich weiß es nicht ... Ich habe mir damals keine Gedanken gemacht. Ich wusste nicht, welche finstere Rolle sie später noch spielen würden ... Sie sind mir nur aufgefallen, weil sie so lange schweigsam vor mir her liefen und alle eine weiße Kutte über dem Arm hängen hatten.“
Der Vorsitzende nickte verständnisvoll. „Gut, erzählen sie weiter.“
Robert versuchte, den Faden seiner Gedanken wieder aufzugreifen. Die Erinnerungen an die schrecklichen Ereignisse lebten auf und es kam ihm vor, als wäre alles erst gestern geschehen.
1In Brüssel tragen eine Straße und eine Einkaufsgallerie den Namen Ravenstein . Der Name geht wohl auf Philipp Eberhard von Kleve, Herr zu Ravenstein (1456 -1528) zurück, der ein niederländisch-burgundischer Adeliger war.
I. Sommer - Lisas Traum
Am Morgen seines ersten Arbeitstages stand Robert am Eingangstor zum Firmengelände und blickte auf das imposante, vierstöckige Gebäude, das die Firma Koudenberg-Kryotechnics als Firmensitz nutzte. Das riesige Gebäude war fast vollständig in roten Ziegelsteinen erbaut. Hellgraue Natursteine fassten die Pforten und Fenster ein und trennten die Stockwerke optisch voneinander. Über der Hauptpforte erhob sich ein kleiner Turm. Robert querte die Parkanlage vor dem Gebäude, trat durch den Haupteingang hinein und schritt durch einen breiten, dunklen Gang, dessen Kreuzgewölbe von massiven Säulen gestützt wurde. Die spärliche Spotbeleuchtung verbreitete eine geheimnisvolle Atmosphäre. Der Gang mündete in eine hohe Galerie, die einer gewaltigen Kathedrale glich. Mehrere Glas-Panorama-Aufzüge führten zu den vier Emporen, die die Galerie an allen Seiten umsäumten. Eine Glaskuppel bildete das Dach. Unten im Erdgeschoss befanden sich die Rezeption sowie ein Café und ein Restaurant für die Mitarbeiter.
Robert meldete sich bei der Rezeption an. Eine Dame erkundigte sich nach dem Grund seines Besuches und bat ihn, etwas zu warten. Bald kam sie zurück und wandte sich an ihn. „Sie sind etwas früh, Herr Dr. Ravenstein. Herr Direktor Koudenberg 2erwartet Sie erst um 9 Uhr. Sie können sich gerne dort hinsetzen und einen Kaffee trinken. Herr Rodenbach wird Sie abholen.“ Robert bedankte sich für die Auskunft und setzte sich an einem freien Tisch in Sichtweite der Rezeption. Bereits nach wenigen Minuten kam ein Mann auf ihn zu und stellte sich sehr höflich vor: „Guten Morgen, Rodenbach ist mein Name, Viktor Rodenbach“. Robert grüßte und wollte aufstehen, doch der Mann machte ihm Zeichen sitzen zu bleiben. „Herr Ravenstein, ich habe gerade Ihre Unterlagen durchgelesen und ich bin mir sicher, dass wir uns kennen.“ Robert schaute ihn überrascht an. Der Mann hatte dunkelblonde Haare, die ihn locker vom Mittelscheitel herab halb über die Ohren bis in den Nacken hingen. Er hatte eine hohe Stirn und ein markantes Kinn mit einem tiefen Grübchen. Der Mann half etwas nach. „Herr Ravenstein… oder soll ich Robert sagen… Sie sind ein Landsmann von mir und wenn ich mich nicht irre, waren wir zusammen in der Schule.“ Nun dämmerte es Robert und er ärgerte sich über sein schlechtes Gedächtnis.
„Viktor, ja… die Grundschule … Ich habe dich gar nicht erkannt“, entschuldigte er sich. „Was hat dich hierher verschlagen?“
Viktor zuckte kurz die Schultern. „Ja, wie die meisten halt… Arbeitslosigkeit.“ Er erzählte, dass er die Rezeption führe und auch noch für den Empfang ausländischer Delegationen zuständig sei. Zwischen den beiden entwickelte sich ein reges Gespräch, denn außer der gemeinsamen Vergangenheit verband sie auch noch das Schicksal der Auswanderung.
Kurz vor neun Uhr begleitete Viktor Robert zum Direktor, dessen Büro sich im vierten Stock direkt unter der Dachkuppel befand. Viktor klopfte an die Tür und eine laute Frauenstimme rief sie herein. Robert rückte kurz seine Krawatte gerade und trat ins Vorzimmer hinein. Die Sekretärin grüßte, meldete den Besuch beim Chef an und führte Robert in dessen Büro. Koudenberg stand auf und ging freundlich lächelnd auf Robert zu, der an der Tür stehen geblieben war. Er war relativ klein und etwas untersetzt. Bis auf einen kurzen, grauen Kranz am Hinterkopf und an den Schläfen hatte er keine Haare mehr. Ein dichter weißer Schnauzer versteckte seine Oberlippe und eine kleine Runde Nickelbrille zierte sein freundliches Gesicht. Robert schätzte ihn Mitte Sechzig.
„Guten Morgen, Herr Dr. Ravenstein, es freut mich, dass Sie da sind“, sagte er freundlich und stellte seine Sekretärin vor. „Frau Maes ist die gute Seele unserer Firma.“ Mit einer einladenden Geste bat er Robert in sein Büro und führte ihn zu einer Sitzgruppe, die direkt vor einem großen Fenster stand. Robert nahm Platz und blickte kurz nach draußen auf den Garten und den Kanal und wandte sich Koudenberg zu. „Ihre Firma ist in einem fantastischen Gebäude untergebracht ... Welchen Zweck hat es früher erfüllt?“
Koudenbergs Gesicht klarte auf: „Dies ist das ehemalige königliche Lagerhaus ... Bis in den Achtzigern Jahren wurde es als solches genutzt.“
„Hmm... ein Lagerhaus“, staunte Robert.
Koudenberg nickte. „Ja ... die Züge fuhren in das Gebäude hinein und hier in meinem Büro stapelten sich die Güter.“
Robert ging ein Licht auf. „Aha... deshalb hat man unten die Schienen liegen lassen und sie mit einer Glasplatte abgedeckt. Ich finde es schön, wie man Altes mit Neuem verbunden hat.“
Koudenberg lebte auf und seine Augen leuchteten. „Sie sagen es ... Um ein Haar hätte man auch dieses Gebäude gedankenlos abgerissen, so wie zahlreiche andere wertvolle Gebäude.“
Robert stimmte dem zu. „Ja... so wie am Brouckèreplatz, wo diese hässlichen Türme das alte Stadtbild verschandeln.“
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