„Die inneren Organe sind nun aufgetaut“, berichtete Kleinknecht. „Wir haben Sauerstoff und eine Nährflüssigkeit einfließen lassen, damit die Zellen nicht ersticken.“
„Toll!“, bemerkte Robert zynisch. „Und sein Hirn?“
Kleinknecht gab sich optimistisch und hob den Daumen. „Kein Problem … Wir haben alle Vorgaben eingehalten und liegen beim Auftauen des Hirns voll im Zeitschema.“
Um 14:53 Uhr geschah plötzlich das Unerwartete: Die am Schädel fixierten Messinstrumente meldeten einen Hirnstrom. „Er denkt!“, rief Kleinknecht euphorisch aus. „Er denkt!“ Alle strömten zur Wanne und beobachteten das Geschehen. Die Hirnaktivität nahm noch zu, flaute allmählich ab und fiel nach fünf Minuten wieder auf null. Kleinknecht war ganz außer sich, begann schon mit John zu reden. „John, hörst du mich! Gib uns ein Zeichen!", rief er aufgeregt. Doch John gab kein Zeichen und zeigte in den nachfolgenden Stunden auch keine Hirnaktivität mehr. Auch Johns Herz regte sich nicht, auch nicht als der eilig herbeigeholte Notarzt mit wiederholten Elektroschocks versuchte, die Herzaktivität in Gang zu setzen. Um 19:14 Uhr wurde John für tot erklärt.
Am nächsten Tag griffen die Medien den Vorfall eifrig auf. Die größte Tageszeitung widmete dem Geschehen unter dem Titel Weltsensation - Hirn nach 40 Jahren wiederbelebt die gesamte Titelseite des Blattes. Eine Boulevardzeitung spekulierte unter dem halbseitigen Übertitel Wem galten Johns letzte Gedanken? über die genaueren Umstände von Johns Aufleben. In den Fernsehnachrichten gaben Hartman und Kleinknecht ausführliche Interviews. Kleinknecht erklärte, wie er die sehr komplizierte Auftau-Prozedur geplant und durchgeführt habe und Hartman betonte, dass die Firma K&K nun weltweit führend auf dem Gebiet der Kryokonservierung sei.
***
Drei Tage später fand Johns Beerdigung statt. Da John durch seine kurze Auferstehung weltberühmt geworden war, säumten zahlreiche Fernsehübertragungswagen aus ganz Europa die Straßen um die Finisterrae-Kirche, in der die Gedenkfeier stattfand. Tausende Menschen strömten in die Stadt, um John auf seinem letzten Weg zu begleiten. Vor der vollen Kirche verfolgten viele Menschen die Trauerfeier auf einer riesigen Leinwand. Dort übermittelte Jenny, Johns entfernte Urgroßnichte, ein paar bewegende Worte des Dankes aus dem fernen texanischen San Angelo. Zu Tränen gerührt stand sie vor der Kamera und rief die Worte „John, America is so proud of you. We all love you“ ins Mikrofon. Inzwischen fing die Messe in der Kirche an. In der ersten Reihe, gleich hinter Johns Sarg, saßen Pfaff, Hartman, Kleinknecht sowie die wichtigsten Politiker und Würdenträger. Hartman sprach sein Mitgefühl für Johns Familie und Verwandtschaft aus und bedauerte, dass er John nicht für längere Zeit ins Leben zurückgeholt habe. Er habe Johns Hand gehalten, als dieser nach seinem kurzen Aufwachen definitiv aus dem Leben schied, und habe gespürt, dass John glücklich gestorben sei. Pfaff sprach sein Lob für die mutigen Forscher aus, die den Fortschritt ermöglichten und die Wirtschaft aufblühen ließen. Er verglich den Forschungserfolg mit dem Stern von Bethlehem, dem es nun zu folgen galt. Die Kryokonservierung werde die Welt verändern und ähnlich wie die Dampfkraft, die Elektrizität und die Computertechnologie eine neue technische Revolution einleiten. Mit den Worten „John ist nicht um sonst gestorben, sondern für die Zukunft der Menschheit“ beendete er seine Rede. Nach der Messe wurde Johns Sarg von sechs Kapuzenmännern aus der Kirche getragen und in einen Leichenwagen gestellt. Ein langer Autozug folgte dem Leichenwagen zu Johns letzter Ruhestätte auf dem städtischen Friedhof.
***
Am Abend hatte Lisa Koudenberg und Robert zum Essen eingeladen. Vor dem Essen schauten sie sich kurz den Fernsehbericht über Johns Beerdigung an.
Koudenberg schüttelte den Kopf und staunte über die Unverfrorenheit, die Hartman und Kleinknecht an den Tag legten. Er sagte nichts, doch er wirkte bedrückt.
„Geschieht das alles mit deiner Zustimmung“, fragte Robert vorsichtig.
Koudenberg zuckte die Schultern und stieß einen tiefen Seufzer aus. „Pfaff und Hartman versuchen die Aktionäre auf ihre Seite zu ziehen ... Deshalb veranstalten sie dieses Spektakel.“
„Wie? Wollen sie dich wirklich aus deiner Position verdrängen?“, staunte Lisa.
„Ja... das versuchen sie schon lange, doch im Moment sind sie noch nicht stark genug. Es sind immer noch viele der Aktien in Familienbesitz und die übrigen Papiere sind verstreut über zahlreiche Kleinaktionäre.“
Nach dem Essen entdeckte Koudenberg Lisas Bilder. Als er erfuhr, dass noch viele Gemälde im Souterrain lagerten, verschwand er mit ihr ins Atelier. Koudenberg war begeistert von ihren ersten Malversuchen und lobte die raschen Fortschritte, welche die späteren Werke in Öl aufwiesen. Mit scharfem Blick inspizierte er die Strukturen, welche die Pinselstriche hinterlassen hatten, spitzte den Mund begutachtend und nickte anerkennend. „Du hast wirklich Talent.“ Lisa war sehr erfreut und erklärte, was sie mit bestimmten Bildern ausdrücken wollte. Als sie wieder oben im Wohnzimmer zurückgekehrt waren, zeigte sie ihre Fotos aus Indien. Es war eine Mischung von aussagekräftigen Snapshots, stimmungsvollen Farbfotos sowie kunstvollen schwarz-weiß Abdrucken. Koudenberg wunderte sich über die Fotos der Tempelwächter im Golden Temple von Amritsar, die mit Speeren, Krummsäbeln und alten Musketen bewaffnet waren und riesige Turbane und lange Bärte trugen.
„Die sehen ja richtig gefährlich aus“, murmelte er.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, nein... die waren harmlos. Wir haben uns länger mit ihnen unterhalten und sie wollten, dass wir ihnen ein Foto zuschicken.“
Lisa holte eine detaillierte Wanderkarte von der Region, in der sie das Trekking unternommen hatten. Koudenberg studierte diese Karte sehr aufmerksam und ließ sich die Tour in allen Details erklären.
Robert brachte nun eine Idee ein, die bei ihm schon vor längere Zeit gereift war: „Und wie wäre es, wenn wir zusammen diese Tour noch einmal machen?“.
Lisa und Koudenberg schauten ihn verwundert an.
„Nach Kaschmir… wir zu Dritt?“, fragte Lisa.
Robert nickte. „Ich glaube, dass ihr beide in Kaschmir dasselbe verloren habt und dass ihr nur dort mit dem Verlust wirklich Frieden schließen könnt.“
Lisa hatte verstanden, dass Robert mit der Reise ein ganz bestimmtes Ziel verfolgte. Auch Koudenberg dämmerte es, was auf ihn zukam. Sie sprachen den restlichen Abend über Roberts Plan und nahmen sich schließlich vor, die Reise im nächsten Herbst anzutreten.
5Die Finisterrae-Kirche gibt es tatsächlich. Natürlich sind die hier beschriebenen Vorgänge in der Kirche frei erfunden.
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