„Egal was?“, staunte Viktor.
„Oh, es waren meistens Fragen zur Religion oder Politik“, erläuterte Robert. „Sie wollten wissen, wie sie sich verhalten sollten.“
„Ach so… Und was war dieser Rat wert?“
Robert zuckte mit den Achseln. „Naja... anscheinend hatten die Orakel überall ihre Informanten und dadurch gaben sie oftmals wertvolle Ratschläge ... Manchmal waren die Sprüche zweideutig formuliert und der Interpretation des Ratsuchenden überlassen.“
Lisa kratzte sich am Kopf und überlegte. „Hm, wie ist denn unser Orakelspruch zu interpretieren?“
Robert spitzte den Mund und wackelte mit dem Kopf. „Hm... ich glaube, dass es ein billiger Abklatsch eines berühmten Orakelspruches aus der Antike ist.“
Lisa ging ein Licht auf. „Ja, ja… ich erinnere mich vage daran ... War es nicht ein griechischer König, der das Orakel von Delphi befragte, bevor er in den Krieg gegen die Perser zog?“
Robert nickte. „Ja, der König von Lydien ... Er wollte wissen, wie der Feldzug ausgehen würde.“
Lisa fiel die Geschichte wieder ein. „Genau… so war es… Und die Antwort lautete, dass er ein großes Reich zerstören würde, wenn er den Grenzfluss überschreitet.“
Robert musste schmunzeln. „Ja… leider hat er nicht bedacht, dass er durch den Angriff nicht das Perserreich, sondern sein eigenes Reich zerstören würde.“
„Was meint ihr? Welches große Reich soll untergehen?“, warf Viktor ein.
„Das ist doch klar“, rief Lisa aus. „In Verbindung mit der Frage nach der wirtschaftlichen Entwicklung der Märkte, ist China gemeint ... Die Mauer, die fallen soll, ist die große chinesische Mauer.“
„Hm… das klingt plausibel“, gab Robert zu, „aber man kann den Spruch auch anders deuten: Das große Reich sind die USA und die Mauer ist die Wallstreet.“
„Hä“, stutzte Viktor, „die Wallstreet ist doch eine Straße.“
„Ja, ja… natürlich, aber der Name geht auf die Mauer zurück, die New York zu Anfang umringte.“
Lisa fasste sich nachdenklich am Kinn. „Tatsächlich... den Spruch kann man so oder so interpretieren.“
Viktor rätselte bereits über der Bedeutung des restlichen Orakelspruches. „Nur die, die dem Kreis der Sterne folgen, werden gerettet ... Was sollen wir um Himmelswillen damit anfangen?“
Robert fiel das Gespräch mit Frank wieder ein. „Oh... anscheinend drohen Milliarden Dollar, die China in Form von Staatsanleihen an die USA geliehen hat, sich in Luft aufzulösen … Ein Spekulant sollte schon wissen, auf welche Karte er setzt.“
Viktor schaute ihn skeptisch an. „Das mag sein, aber damit ist noch nicht geklärt, was mit den Sternen gemeint ist.“
„Nur die, die dem Kreis der Sterne folgen, werden gerettet“, murmelte Robert ratlos und kratzte sich am Kopf.
Lisa schärfte ihren Blick und spitzte den Mund. „Hm ... vielleicht beschäftigen sich diese Typen mit Astrologie oder Esoterik...“
„Oh ja, vielleicht sind bestimmte Sternen- oder Planetenkonstellationen oder Tierkreiszeichen zu beachten“, setzte Robert noch eins drauf.
Viktor zuckte mit den Schultern. „Vielleicht sind einfach die Sterne der amerikanischen Flagge gemeint?“
„Pfff, die chinesische Fahne hat auch Sterne“, spielte Robert die Idee herunter.
Nach einer langen Denkpause hatte Lisa plötzlich einen Einfall. „Ich habe es!“, rief sie euphorisch aus. „Die Europäische Fahne hat Sterne und die sind in einem Kreis angeordnet.“
Robert und Viktor schauten einander verblüfft an und nickten zustimmend.
Robert schaute Lisa ins leere Glas. „Hm… was hast du getrunken? Das bestelle ich auch.“ Auf sein Winken eilte die Bedienung herbei. „Bringen Sie mir bitte das gleiche, was die junge Dame gerade getrunken hat.“ „Für mich auch! Aber bitte aus genau dem gleichen Fass“, fügte Viktor hinzu. „Für mich noch einen Trappist, aber einen Trippel“, betonte Lisa.
Das schwere Bier war ihnen in den Kopf gestiegen. Manche Menschen machte es furchtbar müde, andere blühten geistig auf. Während Robert und Viktor ihren schweren Kopf mit der Hand stützen, sprudelte Lisa vor neuen Ideen. „Wir beobachten einfach die Kirche nachts am Wochenende. Wir werden im Wechsel Wache schieben.“
„Hast du gehört, Robert, sie will spionieren gehen?“, murmelte Viktor.
Robert nickte. „Ja, nachts am Wochenende…“
„Ja… und sie will, dass wir spionieren gehen“, fügte Viktor hinzu.
„Ja… nachts am Wochenende“, knurrte Robert.
Lisa griff einen Bierdeckel und machte einen Plan. „Morgen Nacht, Viktor; Am nächsten Freitag, Robert und ich; Am nächsten….“ Robert und Viktor mimten die Eingeschlafenen. „Rrrrrrrr, ich bin nicht da“, schnarchte Viktor. „Rrrrrrr“, imitierte ihn Robert. „Ich bin auch nicht da.“ Lisa musste lachen und versuchte die beiden zu wecken. Bei Robert half vorsichtiges Kitzeln hinter seinem Ohr.
***
Sie kamen gut zwei Stunden vor Schließungszeit, trödelten Interesse vortäuschend durch die Kirche, schauten sich um und setzten sich schließlich im rechten Seitenschiff zwischen der aus dunklem Holz geschnitzten Kanzel und der Tür, die zur Seitenkapelle der Madonna des Guten Glücks führte. Die letzten Besucher verließen die Kirche und nur noch eine alte Frau betete vorne vor der Kapelle der Madonna von Finisterrae.
Robert schupste Lisa mit dem Ellenbogen an. „Die Frau ist eingeschlafen.“
„Ja… sie sitzt schon eine Stunde dort.“
„Es ist sonst niemand mehr in der Kirche ... Tun wir es?“
Sie nickte entschlossen und schnell sprangen sie beide auf, tauchten unter die Kordel, die die Treppe zur Kanzel absperrte, und schlichen leise die Stufen hoch, die zur Kanzel führten. Oben öffnete Robert das Türchen, sie gingen hinein und duckten sich hinter der Brüstung. Niemand hatte etwas bemerkt. „Wow... geschafft!“, seufzte Robert. Sie packten ihre Decken aus dem Rucksack und machten es sich bequem in ihrem zentralen Beobachtungsposten. Über ihren Köpfen breitete sich ein holzgeschnitzter Schleier aus, der den Himmel darstellte. In den Wolken waren mehrere Engel und auch eine Taube zu erkennen. Langsam wurde es dunkel und geduldig warteten sie, bis die Kirche schloss. Plötzlich hallte eine Stimme durch den Kirchenraum. „Wir schließen … Was machen sie dort?“ Es war die Stimme des Mannes, der sie am ersten Abend bis zur Tür begleitet hatte. Robert duckte sich hinter Lisa und nahm sie fest in seinen Armen. Sie hielt vor Aufregung den Atem an. „Ruhig Lisa, er meint nicht uns“, flüsterte er ihr ins Ohr. Die Dame vor der Kapelle der Madonna von Finisterrae wachte auf und verließ etwas konfus die Kirche. Das Licht ging aus und sie atmeten erleichtert auf. Nur wenig Licht von der Straße streute durch die bunten Kirchenfenster und es dauerte ewig, bis ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Der Lärm eines Krankenwagens schallte kurz durch den Kirchenraum und klang wieder ab. Etwas später drangen die lauten Stimmen und das Gelächter einer größeren Gesellschaft durch die Fensterscheiben und verloren sich wieder in die Nacht.
Plötzlich krachte eine Tür und der Lärm schalte durch das gesamte Gebäude. Sie richteten sich auf und spähten vorsichtig über die Brüstung der Kanzel. Flackerndes Licht erhellte die Kapelle der Madonna von Finisterrae. Angeführt von der roten Kapuze traten etwa zwanzig weiße Kapuzenmänner mit einer Fackel in der Hand durch die Tür, die zur Sakristei führte. Die rote Kapuze trug einen Käfig, in dem ein weißer Hahn verstört um sich blickte. Langsam schritten die Männer in Prozession an ihnen vorbei und blickten dabei demütig zu Boden. Sie schwenkten in die Seitenkapelle der Madonna des Guten Glücks ein und blieben vor der Statue stehen. Die rote Kapuze stellte den Käfig mit dem Hahn vor dem kleinen, weißen Altar ab. Die weißen Kapuzenmänner scharten sich im Halbkreis um den Käfig vor der Madonna-Statue und stimmten einen Gesang an. Anschließend folgte eine Zeremonie, bei der sich die eine Kapuzengestalt nach der anderen vor der Madonna-Statue verneigte, eine Kerze zündete, diese vor dem Altar abstellte und eine unverständliche Formel murmelte. Unterdessen setzten die Kapuzenmänner, die im Halbkreis standen, unermüdlich ihren monotonen Gesang fort. Als alle weißen Kapuzenmänner das Ritual vollzogen hatten, trat die rote Kapuze in den Halbkreis. Er griff den Käfig und der Hahn schlug wild mit dem Flügeln um sich. Er öffnete das Türchen des Käfigs, streckte die Hand hinein und versuchte den gackernden Hahn zu fassen. Der Vogel pickte nach der Hand, trat mit den Beinen und verlor viele Federn, die weit durch die Luft flogen. Schließlich zog die rote Kapuze den Hahn aus dem Käfig und hielt ihn bei den Beinen. Der Vogel flatterte heftig und krächzte laut, bis ihn die rote Kapuze fest unter seinen Arm klemmte. Das Tier gackerte immer wieder, aber hielt erstarrt vor Schreck still. Die rote Kapuze ging mit dem Hahn zum weißen Marmor-Altar unter der Madonna-Statue und streckte ihn mit beiden Händen hoch. Er sprach eine Formel, die die weißen Kapuzenmänner im Chor wiederholten. Dann schnappte er sich ein Messer, kniete vor dem Altar, drückte den Hahn mit einer Hand auf den Boden und hackte ihm den Kopf ab.
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