„Ach so“, staunte Robert.
„Ja… das Schlimmste ist, dass die amerikanischen Importe mit Krediten bezahlt werden … Mit Kreditkarten… oder mit Hypotheken, die die Leute auf ihre Häuser aufnehmen.“
Robert runzelte die Stirn. „Auf Kredit? Warum tun sie das?“
„Das ist ganz einfach“, fing Frank an. „Weil die Löhne in den USA seit Jahren stagnieren, müssen die Amerikaner ihren Konsum zunehmend über Kredite finanzieren … Deswegen werden die Zinsen absichtlich niedrig gehalten.“
„Also... Kredit statt Lohn“, warf Robert ein.
„Ja... genau. Doch die niedrigen Zinsen erhöhen den Druck auf den Immobilienmarkt, denn immer mehr Menschen wollen kaufen, weil kaufen billiger als mieten ist. Nun steigen die Preise der Häuser ins Unermessliche, was es den Eigentümern wiederum ermöglicht, höhere Hypotheken auf ihrem bereits abgezahlten Haus aufzunehmen, um weiter zu konsumieren. Das treibt aber die Privatschulden weiter in die Höhe und befeuert eine gewaltige Schuldenspirale.“
Robert schaute ihn skeptisch an. „Aber wieso können die Banken so viele Kredite vergeben?“
Frank hob kurz die Arme an. „Das ist die gerade die Schweinerei ... Die Banken schwatzen den Leuten ja regelrecht die Kredite oder Hypotheken auf, weil sie daran verdienen.“
Robert war nun völlig verwirrt und zog die Augenbrauen zusammen. „Aber wo haben die Banken das Geld her?“
„Sie kreieren es einfach!“, rief Frank aus.
„Äh“, staunte Robert. „Geht das überhaupt?“
„Aber sicher. Die Banken lassen die Kredite aus ihrer Bilanz verschwinden, indem sie diese verbriefen und auf den Finanzmarkt verscherbeln. Sie sind dabei einen riesigen Schuldenberg anzuhäufen, der nur auf den fiktiven Wert amerikanischer Immobilien steht.“ Robert schaute ihn ungläubig an und Frank setzte noch eins drauf. „Aber auch die Wirtschaft nimmt Kredite auf, um ihre Investitionen zu finanzieren, und auch die Staaten leihen sich Geld, weil die Steuereinnahmen schwinden, und auch die Finanzwirtschaft macht Schulden, um ihre Spekulationsgeschäfte zu hebeln ... Dadurch ist die Gesamtverschuldung in den meisten Industriestaaten inzwischen drei bis viermal höher, als ihr Bruttosozialprodukt.“ Robert blickte nachdenklich und grübelte über das Gesagte. Frank beugte sich zu ihm hin, schaute ihn mit ernster Miene an und sprach flüsternd hinter vorgehaltener Hand weiter. „Wenn diese riesige Schuldenblase platzt, wird eine gigantische Lawine losgetreten. Das wäre der absolute Super-Gau… eine weltweite Finanzkrise, die alle bisherigen Krisen in den Schatten stellt.“ Als er merkte, dass Roberts Gesicht schnell eintrübte, klopfte er ihm ermunternd auf die Schulter und tröstete ihn. „Aber wir werden die Krise schon überstehen, wie alle bisherigen Krisen auch. Nur eins musst du wissen: Die Leute mit Vermögen werden nervös… sehr nervös … Die Meisten haben ihr Vermögen bereits in Sicherheit gebracht… ihre Aktien abgestoßen… ihre Staatsanleihen verkauft und das Geld in Gold, Rohstoffe oder Immobilien angelegt.“
Robert winkte den Gedanken ab. „Ich habe keine Aktien, kein Vermögen und kein Geld.“
Frank schmunzelte und klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. „Das ist gut für dich, denn was du nicht hast, kannst du nicht verlieren.“
Frank wurde von seinem Tischnachbarn abgelenkt und brach das Gespräch ab. Robert brütete über das Gesagte und auch später, als er nach Hause lief, ließen ihn die trüben Gedanken nicht mehr los.
***
Der Verkehr stockte und die geduldigen Autofahrer schoben sich im Schneckentempo durch die Straßen, denn die Gewerkschaften hatten zum Warnstreik bei der Bahn, der Metro und den größeren Unternehmen aufgerufen.
Vor dem Werkstor der K&K standen Streikposten. Die Männer und Frauen trugen Plastikwesten als Kennzeichnung ihrer Gewerkschaft und wärmten sich an einem Feuer, das sie in einem alten Ölfass angezündet hatten. Am Zaun hatten sie große Transparente mit ihren Forderungen befestigt: R egulierung statt Spekulation; Transaktionssteuer jetzt; Vermögenssteuer statt Lohnkürzung; Stoppt die Steuerflucht . Mit einem Megafon skandierte ein Mann die Losungen und die anderen schrien diese im Chor nach. Vor dem Eingang hatten sich jene Leute versammelt, die arbeiten wollten, aber nicht hinein gelassen wurden, und jene, die mit ihrer Anwesenheit die Streikposten unterstützen wollten. Es wurde heftig diskutiert, ein wenig geschubst und geschoben. Lisa und Viktor waren zu Hause geblieben, doch Robert, der sich mit der Situation nicht auskannte, war gekommen, um das Geschehen zu beobachten. Er drängte sich bis zum Tor vor. „Hier kommst du nicht durch!“, schrie ihn ein Gewerkschaftler mit roter Baseballmütze und dickem Bauch zu. Robert machte deutlich, dass er nicht vorhatte durchzubrechen, und der Mann beruhigte sich. Eine sichtlich aufgeregte Frau versuchte sich mit Argumenten Zutritt zu verschaffen. Sie sei alleinerziehend und dringend auf das Geld angewiesen, hielt sie einer Gewerkschaftlerin vor. „Sorry, das geht nicht“, mischte sich der Mann mit der roten Kappe ein. „Wenn der Streik heute misslingt, machen sie uns morgen alle platt.“ Die Frau schüttelte verzweifelt den Kopf und zog ab.
Kurz nach neun tauchten Hartman und Kleinknecht auf und gingen entschlossen auf das Tor zu. Als einige Streikposten versuchten, ihnen den Zutritt zum Betrieb zu verwehren, kam es zu einem kurzen Handgemenge, beim dem die beiden sich den Weg energisch freikämpften. Buhrufe hallten aus der Menge, doch die beiden setzten sich durch. Als sich nichts mehr tat, ging Robert Heim.
In den Abendnachrichten wurde kurz über den Streik berichtet. Die Gewerkschaften erklärten, dass der Warnstreik ein voller Erfolg gewesen sei, während die Arbeitgeberseite auf die geringe Beteiligung insbesondere in den bestreikten Industrieunternehmen hinwies. Erwartungsgemäß gab auch Pfaff einen kurzen Kommentar ab. Er betonte, dass der Streik der Wirtschaft schade und keine Lösung für die wirtschaftlichen Probleme sei, denn er schrecke Investitionen ab und führe somit zu noch mehr Arbeitslosigkeit. Er bedankte sich bei den verantwortungsvollen und anständigen Arbeitnehmern, die den unbedachten Parolen der Gewerkschaft nicht gefolgt seien. Er kündigte auch an, überprüfen zu lassen, ob es rechtens sei, dass Streikposten Arbeitswillige daran hindern, ihre Arbeit aufzunehmen.
Kurz nach neun klingelte es an der Tür. Robert drückte den Türöffner. Zu seiner Verwunderung stand Sarah vor der Tür. „Darf ich kurz rein kommen?“, sagte sie bittend. Er guckte sie erstaunt an. „Bitte“, flehte sie eindringlich und machte ein bedrücktes Gesicht.
Er ließ sie herein, bot ihr an, Platz zu nehmen, und holte etwas zum Trinken in der Küche. Er legte Musik auf und setze sich. Sie trank den eingeschenkten Wein auf einmal leer, blickte ins leere Glas und seufzte tief. „Irgendwie sitze ich seit Wochen Abend für Abend allein zu Hause ... Mir fällt die Decke auf den Kopf ... Ich kenne hier niemand“, jammerte sie. Robert nickte ihr verständnisvoll zu. „Das letzte Wochenende habe ich im Bett verbracht“, stöhnte sie. „Ich hatte keinen Grund mehr aufzustehen ... Ich war es leid, mich alleine in Kneipen und auf Feten herumzutreiben. Irgendwie kommt nie etwas dabei heraus.“
„Du möchtest weg von hier ... lieber heimkehren, oder?“, warf er ein.
Sie dachte kurz nach, trank den Rest ihres Weines und seufzte. „Habe ich wirklich eine Wahl?“
Robert fand, dass sie Recht hatte, denn die Entscheidung herzukommen, war keine freie Entscheidung gewesen, sondern eine erzwungene. Die Wirtschaft verlangte Flexibilität, doch das Herum-Schupsen von Menschen quer über den Globus hatte seinen Preis und für Viele war dieser Preis zu hoch. Er hörte ihr zu und erkannte auch seine eigene Geschichte.
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