Koudenberg nickte zustimmend. „Ja, ja... genau das meine ich. Eure Städte wurden zerbombt ... Brüssel hat sich selbst zerstört.“
„Das ist schade“, warf Robert ein, „denn alte Gebäude erzählen die Geschichte einer Stadt. Sie bewirken, dass die Menschen sich mit ihr identifizieren.“
„Genau!“, fiel ihm Koudenberg erfreut ins Wort. Er deutete auf die gegenüberliegende Wand, an der einige in Öl gemalten Porträts hingen. „Schauen Sie, das sind meine Vorfahren. Alle hatten einen Sinn für Schönheit und waren großzügige Mäzene. Viele Gebäude und Einrichtungen sowie Kunstsammlungen in dieser Stadt haben wir ihnen zu verdanken. Der erste ist mein Ururgroßvater, der klein angefangen hat. Meine Familie hat ihre Herkunft nie verleugnet, wusste noch, was soziale Verantwortung hieß und hatte sich dadurch ein hohes Ansehen erworben. So war das damals. Doch heute zählen nur noch Geld, Gewinn und Rendite ... Shareholder Value, wie man so schön auf Englisch sagt.“
Robert nickte. „Ja... heute bestimmen leider nur noch Investoren das Geschäft und das Ergebnis ist entsprechend.“
Koudenberg schaute kurz auf die Uhr und stand auf. „Herr Dr. Ravenstein, ich möchte Ihnen jetzt gern unsere Firma vorstellen und Sie mit den Mitarbeitern ihres Teams bekannt machen. Wir können später dieses sehr interessante Gespräch fortsetzen.“
Auf dem Weg nach unten erläuterte Koudenberg, dass die Produktionshallen sich ein ganzes Stück entlang des Kanals erstreckten. Am Ausgang des alten Lagerhauses wartete ein kleines Elektrofahrzeug, in das sie beide einstiegen. Koudenberg gab dem Fahrer eine kurze Anweisung und das Auto zog geräuschlos davon. Der Fahrer peilte ein weißes Gebäude an, das direkt vor ihnen lag und fuhr durch die große Eingangstür hinein. Koudenberg gab während der Fahrt seine Kommentare ab. „Hier produzieren wir Kühlschränke für den privaten Haushalt. Wir haben uns aber auf ausgefallenes Retrodesign spezialisiert, denn die einfache Massenware wird heutzutage viel billiger im Ausland gefertigt.“ Robert musterte die lichtgrünen und vanillegelben Kühlschränke im Design der 60-er Jahre, die in langen Reihen auf ihren Abtransport warteten. Genauso fuhren sie durch vier weitere Werkshallen, in denen Kühlanlagen für Wohnungen und Fahrzeuge sowie Kühlaggregate für Kühlräume und riesige Kühlhäuser gefertigt wurden, doch in Gedanken war Robert schon längst bei der Forschung, für die die Firma ihn angeworben hatte. „So, Herr Ravenstein, wir sind beim Forschungszentrum“, riss ihn Koudenbergs Stimme aus seinen Gedanken.
Das Gebäude, vor dem sie stehen geblieben waren, war das modernste von allen und fiel durch seine markante Architektur auf. In der tiefblauen Glasfassade spiegelten sich die Baumreihe am Kanalufer sowie zwei kleinere Hafenkräne und ein Frachtschiff, das an der Kaimauer beladen wurde. Weiter oben schlichen hellblaue Stapelwolken langsam über die Fensterwand. „Dieser Glaskasten nennen die Mitarbeiter das Aquarium und ich glaube, dass ich ihnen zustimmen muss“, scherzte Koudenberg. Im Aufzug informierte Koudenberg ihn über die internen Zusammenhänge im Unternehmen. „Den Forschungsbereich haben wir durch die Fusion mit der Firma Kryotechnics erworben und Herr Hartman ist der Sohn des damaligen Besitzers und Leiter der Forschung.“
Hartman empfing den angekündigten Besuch in seinem geräumigen Büro. Er grinste breit, ging mit ausgestreckter Hand auf seine Gäste zu, begrüßte sie mit jovialem Handschlag und führte sie zum Besprechungstisch, auf dem er Kaffee, Tee und eine Auswahl von Keksen bereitstellen lassen hatte. Er war Mitte dreißig, trug eine kleine, ovale Brille und hatte durch seine markante Jochbeine ein ausgeprägt eckiges Gesicht. Er bat seine Sekretärin, Herrn Kleinknecht und Frau Stuyvenberg Bescheid zu sagen, dass die Besprechung gleich beginne. Kleinknecht tauchte als erster auf und Koudenberg stellte ihn vor. „Herr Josef Kleinknecht ist Ingenieur und unterstützt uns bei der technischen Umsetzung unserer Forschungsprojekte.“ Kleinknecht gab Robert die Hand. Er war im gleichen Alter wie Hartman und hatte einen Dreitagebart. Gleich darauf trat eine Frau herein, die Robert gleich auffiel, weil sie ein sehr hübsches Gesicht hatte. Sie hatte lange, leicht wellige, dunkle Haare, die ihr vom Mittelscheitel herunter über Schultern und Rücken hingen. „Darf ich Ihnen Lisa Stuyvenberg 3vorstellen“, sagte Koudenberg. Ihre dunkeln, lebendigen Augen blickten Robert kurz an, sie fuhr mit der Hand durch ihre Haare, lächelte freundlich und nickte ihm zu. „Sie ist für die Tierexperimente zuständig und kennt sich sehr gut mit Mäusen aus.“
„Aber nicht nur Mäusen, Herr Koudenberg“, verteidigte sie sich, „wir haben noch viel größere Forschungsobjekte auf Lager.“
Koudenberg zog die Augenbrauen hoch und tat überrascht. „Aber Lisa, Sie meinen doch wohl nicht die Leichen im Keller?“
„Doch, doch Herr Koudenberg“, stichelte sie, „genau die meine ich.“
Robert stutzte, denn er konnte sich nicht vorzustellen, dass es wirklich Leichen im Keller gab. Als sie sich neben ihn hinsetzte, bekam er ihr Parfum in die Nase. Es war ein angenehmer Duft, der sich nicht aufdrängte. Es duftete nach Blumen – vielleicht Rosen -, aber mit einer feinen Note. Er setzte ein Lächeln auf und amüsierte sich über die lebhafte Mimik, die sie im Gespräch mit Koudenberg entfaltete. Ihm gefielen ihr charmantes, schelmisches Lächeln sowie ihr Sinn für Humor. Im weiteren Gespräch erfuhr er, dass er in Sachen Forschung direkt Hartman unterstellt war und dass er ein Büro im 4. Stock des alten Lagerhauses bekam, weil er dort als Betriebsarzt für alle Mitarbeiter des Betriebes zuständig war.
„Sie werden die Forschung medizinisch begleiten“ erläuterte Koudenberg. „Wie Sie wissen, sind wir dabei, eine Methode zu entwickeln, um Organe einzufrieren und bei Bedarf wieder aufzutauen.“
„Genau“, stimmte ihm Hartman zu, „unser Ziel ist, Organe länger aufzubewahren, damit wir Zeit gewinnen, um einen geeigneten Organempfänger zu ermitteln und die Operation ordentlich vorzubereiten. So manche Transplantation geht schief, weil das passende Organ zu lange unterwegs ist.“ Robert nickte zustimmend und Hartman schenkte nochmals Kaffee nach und fuhr fort: „Sie sollten wissen, Herr Ravenstein, dass das Überleben unserer Firma vom Erfolg unserer Forschung abhängt, denn mit den herkömmlichen Produkten verdienen wir immer weniger Geld“.
Koudenberg zuckte mit den Achseln und fiel ihm ins Wort. „Naja, Herr Hartman, übertreiben Sie mal nicht. Noch sind unsere Auftragsbücher gut gefüllt.“
Das weitere Gespräch drehte sich um die Forschung, die Firma und die allgemeine wirtschaftliche Lage. Robert blickte hin und wieder zu Lisa hin, die die ganze Zeit mit ihren Haarspitzen spielte und verlegen lächelte, als sich ihre Blicke kurz trafen. Nach einer guten halben Stunde verabschiedete sich Koudenberg und als er bereits in der Tür stand, fiel ihm noch etwas ein: „Oh ja, Lisa, zeigen Sie Herrn Ravenstein unbedingt die Leichen im Keller. Ich glaube nicht, dass er unser Geheimnis schon kennt.“
Sie warf ihre Haare lächelnd zurück. „Aber nicht schon heute, Herr Koudenberg, sonst überlegt er sich noch, ob er wirklich bei uns arbeiten will.“ Koudenberg lächelte und verschwand.
Robert amüsierte sich über die Geheimnistuerei und er wandte sich an Lisa: „Wissen Sie Frau Stuyvenberg, als Arzt habe ich viele Leichen gesehen. Auf eine mehr oder weniger kommt es nun auch nicht mehr an“.
Sie legte den Kopf zur Seite und lächelte ihn herausfordernd an. „Oh... da wäre ich mir nicht so sicher. Es kommt immer auf die Dosis an ... Eine Überdosis haut auch die stärksten Männer um.“
„Hm... eine Überdosis...“, murmelte er, denn sonst fiel ihm nichts ein.
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