Robert hatte dies schon geahnt und nickte. „Und wusste Koudenberg, dass ihr zusammen wart?“
Sie wackelte abwägend mit dem Kopf. „Ja schon… aber Jonas hat mich seinen Eltern nie vorgestellt.“
„Warum hast du mit Koudenberg nie darüber gesprochen? Es wäre doch eine Hilfe gewesen, dein Schicksal mit ihm zu teilen.“
Sie überlegte, denn aus dem Blickwinkel hatte sie die die Sache noch nicht betrachtet. „Er ist mein Chef“, murmelte sie.
Später im Foyer traf Robert auf Viktor. „Heute Abend musst du das Erste gucken“, sagte er mit einem breiten Grinsen im Gesicht. „Pfaff hält wieder eine Predigt. Du musst unbedingt hinhören, damit du weißt, wer hier vielleicht mal das Sagen hat.“
***
Am Abend schaltete Robert den Fernseher ein und schaute sich die Nachrichten an. Der flotte Nachrichtensprecher mit Anzug und Krawatte berichtete über die zunehmende Nervosität an der Wallstreet, über steigende Zinsen, über sinkende Wachstumsraten, über den einsetzenden Preisverfall der USA-Immobilien und über viele Dinge mehr. Als die Sportnachrichten anfingen, ging Robert auf die Toilette und machte sich in der Küche ein Brot. Als er ins Wohnzimmer zurückkam, füllte Pfaffs Gesicht den gesamten Bildschirm. Pfaff lächelte diskret und nickte bekräftigend, als die Moderatorin ihn als Wirtschaftsexperte vorstellte und seine Verbindung zu einem renommierten Wirtschaftsinstitut in Chicago erwähnte. Er strich ständig seinen grauen Bart glatt, der ihm die Aura eines Propheten verlieh. Er trug einen Business-Anzug und wirkte seriös, denn Seriosität war sein Markenzeichen und der Klebstoff, mit dem er die Zuschauer leimte. In der Talkshow warf er mit Zahlen um sich und prophezeite den Zuschauern schlechte Zeiten. Zum passenden Zeitpunkt machte er ein bitterböses Gesicht, hob den Zeigefinger und warnte: „Wir leben alle über unsere Verhältnisse … Wir sitzen auf einem Pulverfass von Schulden … Wir müssen sparen“. Angst machen war seine beliebte Strategie und virtuos bespielte er das Klavier der Ängste. Er verstand es, ahnungslose Bürger mit Schreckensvisionen zu überfallen, damit sie nachts nicht mehr schlafen konnten. Er wusste, dass diffuse Angst das Denken erschwert und Prozesse im Hirnstamm aktiviert, die sich gut lenken lassen.
Die Redebeiträge, die Pfaff im Laufe der Sendung von sich gab, passten logisch gar nicht zusammen. Zu Anfang forderte er eine Lohnsenkung, damit die Wirtschaft der ausländischen Konkurrenz standhalten könne. Irgendwann mitten drin plädierte er für mehr Konsum, da sonst der Binnenmarkt einbreche. Zum Schluss rief er die Bevölkerung zum Sparen auf, weil die Sparquote zu niedrig sei. Robert schüttelte den Kopf und machte den Fernseher aus. Er nahm Pfaff nicht sonderlich ernst, denn er hatte keine Ahnung, welche unheimliche Rolle dieser bizarre Mann bald in der Weltgeschichte spielen würde.
Pfaff war so, wie Viktor ihn geschildert hatte: Er führte sich als Wirtschaftsexperte auf, der einen guten Draht zur Wirtschaft hatte und wusste, was diese liebte, verärgerte und verunsicherte. Er gab sich auch als Arzt, der anhand von Untersuchungen, Kurven und Werten die Krankheiten der Wirtschaft diagnostizierte und diese mit einer bitteren Medizin kurierte. Dabei waren seine Rezepte immer gleich: Er verordnete Lohnkürzungen, Privatisierungen und Abbau von Sozialleistungen. Durch gezielte Stimmungsmache in den Medien bestimmte er die Politik. Den Gewerkschaften stopfte er den Mund, indem er warnte, dass Lohnforderungen die Wirtschaft in eine tiefe Depression stürzen würden. Wirtschaftskritische Parteien drängte er ins politische Abseits, indem er sie verteufelte und behauptete, ihre schiere Existenz würde die Wirtschaft ängstigen. Er würgte jegliche Regulierungsversuche ab, indem er mahnte, dass diese der Wirtschaft den Sauerstoff nehmen würde.
Durch Pfaffs Darstellungen erhielt die Wirtschaft zunehmend Züge eines Wesens, das kein Gesicht hatte, nicht einmal sichtbar war, aber trotzdem tief im Leben der Menschen eingriff. Die Wirtschaft stellte harte Forderungen an die Menschen, verlangte ihnen vieles ab und ließ sie schuften. Sie hegte richtige Gefühle und wies menschliche Charakterzüge auf. Sie galt als fleißig, effizient, zielstrebig und selbstbewusst. Allerdings war sie etwas labil und daher auch unberechenbar. Man sagte ihr eine manisch-depressive Störung nach, denn sie schwankte ständig zwischen Hoch- und Tiefphasen. Sie war ehrgeizig, doch gleichzeitig auch gierig, egoistisch und dominant. Sie konnte belohnen, doch meistens erbarmungslos bestrafen und gewissenlos zerstören. Sie war launisch, überempfindlich und nachtragend. Sie war ungerecht, machtsüchtig und verfolgte eiskalt ihre Ziele. Sie hatte deutliche autistische Züge, doch zum Glück die leichte Form… den Asperger. Sie hatte wenig Einfühlungsvermögen, kannte kein Mitleid, dachte nur an sich und betrachtete die Welt sehr egozentrisch. Sie war ein rechthaberisches Wesen, das sich durch Launen und Tücken einen prominenten Platz in der Gesellschaft erschlichen hatte. Wenige Menschen liebten sie und kein Mann hätte sie - wenn sie eine Frau wäre - heiraten wollen. Vielleicht gerade wegen ihres schwierigen Charakters versuchten alle es ihr recht zu machen, was allerdings dazu führte, dass alle sich ganz nach ihr richteten. Die ständige Rücksichtnahme hatte sie maßlos verwöhnt, wodurch sie schließlich - wie ein zorniges Kind - alles bekam, was sie wollte. Schuld an ihrem schwierigen Charakter hatten sicherlich ihre glücklose Kindheit, die laue anti-autoritäre Erziehung und die fehlende harte Hand eines gerechten Vaters. Dieser hatte es nur gut mit ihr gemeint und war allzu nachgiebig gewesen, bis sie schließlich den Respekt vor ihm verlor und ihm trotzig auf die Nase herum tanzte. Man musste es nun mit ihr aushalten, weil sie inzwischen großen Einfluss hatte und nichts mehr gegen ihren Willen geschah. Sie verstand es, den Männern mit ihrem vielen Geld den Kopf zu verdrehen. Ihr gewagtes Dekolleté und der Einblick auf ihre prallen Brüste regten die Fantasie der Männer an. Viele träumten davon, mit beiden Händen hinein greifen zu dürfen, um sich an ihnen zu laben. Doch viele griffen daneben, gaben irgendwann enttäuscht auf und landeten nach einem kurzen Höhenflug mit einem Gefühl der inneren Leere und der Diagnose Burnout auf die Couch eines Therapeuten. Doch wie in den besten Familien sprach man nicht über die wirklichen Probleme. Solange die Familie nicht allzu sehr darunter litt, wurde ihre Spiel- und Verschwendungssucht verdrängt und leidvoll ertragen. Doch irgendwann war das Maß voll und ihr Benehmen drohte die Familie in den Abgrund zu reißen. Der Vater hätte endlich auf den Tisch hauen sollen, doch wieder einmal würde er kläglich versagen.
Als Robert das Besprechungszimmer im Aquarium betrat, testete Kleinknecht seine Präsentation. Die Technik schien nicht zu funktionieren und er fluchte verärgert. „So ein Scheißding!“ Er schaltete seinen Laptop mehrmals an und aus, steckte die Kabel in andere Steckplätze und pustete nervös.
Robert beobachtete, wie Kleinknecht langsam die Geduld verlor. „Versuch es mal mit der ALT und F5-Taste“, regte er an.
Kleinknecht blickte ihn mit feuerrotem Kopf an und befolgte den Rat. Das erste Bild erschien. „Danke, danke“, sagte er flüchtig und setzte sich an seinen Platz.
Lisa tauchte auf und setzte sich an den Tisch neben Robert. Schließlich erschienen Hartman und einige seiner engsten Mitarbeiter. Die Besprechung konnte beginnen.
"Herr Ravenstein... fangen Sie an", forderte ihn Hartman auf.
Robert nickte und ergriff das Wort: "Wie wir alle wissen, gibt es bei der Einfrierung von Zellen einige Probleme, die immer noch nicht gelöst sind", sagte er. "Ein großes Problem ist, dass sich beim Abkühlen scharfkantige Eiskristalle in den Zellen bilden. Sie wachsen langsam, erreichen die Zellwand und beschädigen diese. Die Zelle wird von innen heraus zerstört und stirbt. Ein anderes Problem ist die Anwendung von Kryoprotektoren ... Diese sollen verhindern, dass das Wasser in den Zellen gefriert. Die Kryoprotektoren entziehen den Zellen zunächst das Wasser. Hierdurch erhöht sich die Viskosität der intrazellulären Flüssigkeit. Wenn die Zellen nun schnell eingefroren werden, bleibt die Kristallisation aus. Das Problem ist, dass nach dem Auftauen die Kryoprotektoren das Gewebe wieder verlassen müssen, weil sie toxisch sind.“
Читать дальше