Mama nickte. „Ja, wir nehmen das Buch mit den Bildern.“
Merymend legte die kleinen Bücher beiseite und packte das große in eine neue Papiertüre. Er reichte sie Anne. Überrascht von dem Gewicht, hätte sie die Tüte fast fallen gelassen.
„Schwere Lektüre“, sagte Merymend.
Er sah Anne so durchdringend an, dass sie den Blick senkte.
„Nicht für meine Anne“, sagte da Mama. „Wenn sie an etwas interessiert ist, zeigt sie richtigen Entdeckergeist.“
„Gewiss, Gnädigste“, sagte Merymed, „die eigenen Kinder sind immer die besten“.
Mama kicherte, streichelte Anne über den Kopf und bezahlte. Dann reichte sie dem Buchhändler die Hand.
„Vielen Dank, Herr Merymend. Wir werden Ihnen berichten, wie das Buch war, dass sie so wärmstens empfohlen haben.“
Nur widerwillig ergriff Merymend die dargebotene Hand.
„Ich danke Ihnen, Teuerste. Bitte beehren Sie mich recht bald wieder, und bringen Sie diesen Fratz da mit.“
Damit warf er einen letzen Blick auf Anne, einen Blick der sagte: „Bleib bloß weg von hier, du Kröte “.
Anne schluckte den Kloß in ihrem Hals hinunter. Mama winkte noch mal Herrn Merymend zu, dann ging sie zur Tür. Ihre Tochter lief schnell hinterher. Sie wollte auf keinen Fall allein an diesem Ort bleiben, nicht eine Sekunde. Als die Türe hinter ihnen krachend ins Schloss fiel, atmete Anne erleichtert auf.
Als Mama am Abend mit Papa über den wundervollen Buchladen und den interessanten Herr Merymend redete, fragte sich Anne, ob sie mit Mama im selben Laden gewesen war. Sie hatte überhaupt nichts Wundervolles entdecken können. Der Laden war unordentlich und ziemlich schäbig, kein Vergleich zu der großen, von Licht durchfluteten, Buchhandlung, zu der sie vor dem Umzug immer gegangen waren. Herrn Merymend konnte man durchaus als interessant bezeichnen, allerdings beschrieb Mama ihn so, als gäbe es weit und breit keinen zuvorkommenendern, höflicheren, gebildeteren, besser aussehenden Mann als ihn. Anne fragte sich ernsthaft, ob ihre Mutter den Verstand verloren hatte. Sonst ließ sie sich nicht so schnell beeindrucken. Sie war keine dumme Frau, sie hatte Psychologie studiert und kannte sich aus mit den Menschen. Es war schwer, ihr etwas vorzumachen. Ausgerechnet auf diesen Merymend musste sie hereingefallen. Darüber würde Anne noch nachdenken müssen. Aber erst mal hatte sie genug zu tun mit den Rätseln, die sich plötzlich vor ihr auftaten wie ein schwarzes Loch: Das haarige Ding unter ihrem Bett, die Erdnüsse, die steinerne Frau mit Hut, der unheimliche Laden, der Vogel, der Kreis, das Licht… Und dann natürlich dieser undurchschaubare Herr Merymend, für den Mama so schwärmte. Konnte es sein, dass es in diesem Durcheinander von Dingen eine Ordnung gab, womöglich einen Zusammenhang?
Nach dem Abendessen hatte Anne sich gleich in ihr Zimmer zurückgezogen.
„Willst du denn nicht mitspielen?“, hatte Papa gefragt, der gerade ein Brettspiel aus der Küchenbank gezogen hatte.
Anne hatte nur den Kopf geschüttelt. Mama war gleich zu ihr gekommen, um ihr die Stirn zu fühlen.
„Wirst du krank?“
Anne hatte mit den Schultern gezuckt und Mama hatte sie gestreichelt.
„Geh ruhig ins Bett, Anne-Maus. Ich bringe dir gleich noch eine heiße Milch mit Honig. Das hilft bestimmt.“
Anne lag bäuchlings auf ihrem Bett, schlurfte die warme Milch und blätterte in dem Papageienbuch. Es gab viele schöne Papageien. Die Bilder luden zum Träumen ein. Wäre es nicht wundervoll, diese herrlichen Tiere mit eigenen Augen zu sehen?
Irgendwann werde ich sie sehen. Wenn ich erst mal Zoologin bin, werde ich alle Tiere der Welt sehen.
Anne lächelte bei diesem Gedanken. Anders als andere Kinder mochte sie nicht in den Zoo gehen. Die eingesperrten Tiere machten sie traurig. Anne liebte Dokumentarfilme. „Serengeti lebt!“ hatte sie schon oft gesehen. Papa hatte ihr die DVD zu ihrem letzten Geburtstag gekauft. Seitdem war der Film eine Art Sonntagsritual geworden. In aller Frühe stand Anne auf, machte sich einen Toast, setzte sich dann 60 Minuten auf das Sofa, und genoss die Tiere in der freien Wildbahn, wenn auch nur gefilmte. Solche Tiere wollte sie beobachten und erforschen, wenn sie groß war. Sie konnte sich keinen schöneren Beruf vorstellen als diesen.
Gedankenverloren blätterte sie eine Seite nach der anderen um. Sie glaubte schon nicht mehr daran, den Vogel aus der Buchhandlung zu entdecken, als sie an der folgenden Überschrift hängen blieb:
Der Kakapo – gefährdeter Bewohner Neuseelands
Aufgeregt betrachtete Anne das Bild. Das hier war genau der Vogel, den sie in der Buchhandlung gesehen hatte, ein großer, überwiegend grüner Papagei mit stark gebogenem Schnabel. Er verdiente es, als süß bezeichnet zu werden, denn in den schwarzen Knopfaugen lag ein sanfter Blick, der Annes Herz sogleich zum Schmelzen brachte.
Anne überflog den Text und runzelte die Stirn.
Der Kakapo ist eine Papageienart, die nur in Neuseeland vorkommt. Er ist flugunfähig, kann allerdings gut klettern. Zwar ist er der größte Papagei der Welt, aber auch extrem gefährdet. Es gibt nur noch so wenige seiner Art, dass die Zoologen in Neuseeland jedes Tier kennen und beobachten.
Anne besah sich das Bild erneut. Konnte es sein, dass ein fast ausgestorbenes Tier in Deutschland in Köln in einer Buchhandlung saß? Plötzlich fühlte sie sich wirklich krank. Ihr Bauch schmerzte und ihr Kopf tat weh. Sie schlug das Buch zu und legte ihren Kopf auf den harten Einband.
Was passiert hier?
Papa öffnete die Tür und lugte in Annes Zimmer.
„Mausezahn, du bist ja noch wach.“
Anne setzte sich auf. „Ich kann nicht schlafen.“
Papa öffnete die Tür ganz und trat zu ihr ans Bett.
„Tut dir was weh?“
Anne zeigte auf ihren Bauch. Papa setzte sich auf ihre Bettkante. Er nahm das große Buch und legte es auf ihren Nachttisch, dann schüttelte er ihre Kissen aus und legte sie mit sanftem Druck auf den Rücken. Als Papa die Decke über sie zog und ihr einen Kuss auf die Stirn gab, fühle Anne sich schon gar nicht mehr so schlecht.
„Soll ich dir eine Geschichte erzählen“, fragte Papa.
Anne lächelte. „Kannst du noch mal die von der kleinen Hexe erzählen?“
„Aber natürlich, mein Mäusemädchen.“
Anne schloss die Augen und lauschte Papas Stimme. Sanft erzählte er von der kleinen Hexe und ihrem Raben Abraxas. Anne zwang sich, wach zu bleiben, weil sie unbedingt den Schluss von der Geschichte hören wollte. Deshalb machte ihr Papa zum Einschlafen noch eine Drei-???- Kassette an, bevor er ihr Zimmer verließ. Anne fühlte sich seltsam erregt. Die Welt erschien ihr dumpf, wie in Watte gehüllt. Sie würde sich morgen wieder Gedanken machen und vielleicht sah die Welt dann klarer aus. Weniger verwirrend. Sie rollte sich auf die Seite. Mit der linken Hand zog sie ihre Nachttischschublade auf und öffnete das bunte Kästchen, das dort immer stand. Mit den Fingerspitzen strich sie über ihren Kompass.
Du wirst mir immer den Weg weisen, egal wo ich bin.
Als Anne am nächsten Morgen die Beine aus dem Bett schwang, trat sie auf etwas Hartes. Zuerst war sie verwirrt, doch dann entstand ein Bild in ihrem Kopf: Erdnüsse.
Tatsächlich, Anne war auf Erdnüsse getreten, die vor ihrem Bett gelegen hatten. Die Schalen waren eingetreten, die Frucht zermalmt. Unter ihrem Fuß klebten Krümel. Anne wischte sie fort und überlegte, ob etwas vor ihrem Bett gestanden hatte, das den Dieb interessiert haben könnte.
Es muss etwas Glänzendes sein.
Doch es wollte ihr nichts einfallen. Sie ging auf alle Viere und lugte unter das Bett. Das übliche Chaos blickte ihr entgegen. Anne schüttelte den Kopf. Unmöglich, herauszufinden, was alles da unten lag.
Читать дальше