Der Arzt folgte ihr bis zur Tür, blieb dann aber noch einmal stehen. »Sie kommen einen Moment allein zurecht?«, fragte er halb zu den Eltern von Kolbert gewandt. Um dann eilig hinzuzufügen: »Schwester Ilse ist gleich wieder da!«
Schon war er draußen. Und Kolberts Eltern blieben allein zurück. Die Mutter hatte sich halb im Bett aufgerichtet. Schweigend saßen sich beide Eltern nun gegenüber. Mit steinernen Gesichtern. Auf einmal wieder kinderlos.
Vielleicht würde alles noch einmal auf null gesetzt? Und die Geburt ihres Kindes stünde erst bevor: Noch waren sie zu zweit, doch schon bald würde ein gesundes Kind mit rosiger Haut und braunem Haar sie anlächeln.
Doch dann war die Hebamme wieder da. Versuchte mit ihrem erneut aufgesetzten Lächeln die Lage zu entschärfen. Und damit war auch die Wirklichkeit wieder gegenwärtig: Kolbert war nicht normal geboren worden, sondern hatte eine durchsichtige Haut.
Und jetzt wurde er in einem anderen Raum der Klinik untersucht. Womöglich litt er an einer schweren Krankheit. Die vielleicht unheilbar war und gar zum Tode führen konnte.
»Was ist mit unserem Kind?«, rief die Mutter. Die Hebamme versuchte tapfer weiter zu lächeln, als sie sagte: »Es kommt alles in Ordnung! Ihr Sohn wird gerade untersucht!«
»Nichts ist in Ordnung!«, meinte der Vater aufgeregt. »Wir tun was wir können!«, stotterte die Hebamme unsicher.
»Besteht Lebensgefahr?«, fragte der Vater. »Wird unser Sohn überleben?«, rief die Mutter.
»Er wird!«, hörten sie die Stimme des Arztes. Er trat an das Bett, in dem die Mutter immer noch aufgerichtet saß.
»Beruhigen Sie sich!«, sagte er leise, aber bestimmt. Er berührte sie mit beiden Händen an den Schultern und drückte sie sanft zurück, bis sie mit dem Kopf wieder im Kissen lag.
»Beruhigen Sie sich!«, wiederholte er dann und sah der Mutter ins Gesicht. »Ihr Sohn hat einen starken Mangel an Pigmenten in seiner Haut. Aber da ist nichts, weshalb er sterben müsste. Babys haben zwar ohnehin noch weniger Farbstoffe als Kinder und Erwachsene ...«
»Was heißt das jetzt für unser Kind?«, fragte der Vater.
»Vielleicht handelt es sich um Leuzismus oder Albinismus ...«, begann der Arzt zu erklären, doch die Mutter unterbrach ihn: »Ein Albino? Unser Sohn ist ein Albino?«
»Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen«, versuchte der Arzt zu beschwichtigen, »Sie haben ja gerade erst begonnen. Ihr Kind ist doch eben erst geboren ...«
»Albinos?«, warf der Vater nun ein, »Sind das nicht Missgeburten?« Energisch schüttelten Hebamme und Arzt die Köpfe.
»Albinismus bedeutet nur, dass die Haut des Betroffenen sehr wenig oder fast keinen Farbstoff hat«, versuchte der Arzt zu erklären, »Dadurch wirkt die Haut durchsichtig. Dieser Mangel an Pigmenten ...« »Pigmenten?«, fragte die Mutter.
»Pigmente sind Farbstoffe. Je mehr davon eine Haut hat, desto dunkler ist sie. Somit kann man sicher nicht von einer Missgeburt sprechen, nur weil Ihr Kind augenscheinlich nur wenige Pigmente hat!«
Beide Eltern schauten den Arzt schweigend an. »Urteilen Sie nicht zu vorschnell, wo wir alle doch noch gar keine klaren Erkenntnisse haben!«, fuhr der fort.
»Wir werden Ihr Kind gründlich untersuchen, und ziehen auch einige Hautspezialisten hinzu. Wenn eine genaue Diagnose feststeht, werden wir eine wirkungsvolle Behandlung einleiten. Bis dahin sollten Sie erst einmal abwarten. Es macht keinen Sinn, wenn Sie sich aufregen. Und sich dann herausstellt, dass es etwas Harmloses ist. Wir werden Sie bestimmt beizeiten ausführlich informieren.«
Schnell hatte sich das anfängliche Entsetzen der Eltern über Kolberts durchsichtige Haut gelegt. Nachdem ihnen einer der Fachärzte eröffnet hatte, dass ihr Sohn keineswegs an einem Mangel an Hautfarbstoff litt. Dies hatte eine ausführliche Untersuchung in der Klinik ergeben.
Pigmente gab es in Kolberts Haut genügend, sie waren sogar im Übermaß vorhanden. Allerdings machten die untersuchenden Hautärzte diese Entdeckung nicht sogleich. Denn bei der Geburt von Kolbert waren sämtliche Farbzellen auf transparent gesetzt. Daher war es kein Wunder, dass man zunächst vermutete, es gäbe in seiner Haut fast oder gar keine Pigmente.
Erst nach einigen Wochen begann Kolberts Haut allmählich Farbe anzunehmen. Doch wurde daraus nicht ein bei vielen Babys übliches Zartrosa, sondern ein Grau, das sich von Tag zu Tag mehr verdichtete, bis es von einem glasigen Schmutzgrau zu einem geschlossenen Hellgrau geworden war.
Diese Hautfarbe führte die Fachärzte zunächst zu der irrigen Diagnose, man habe es mit einer unbekannten Krankheit zu tun. Eine genauere Untersuchungsreihe jedoch hatte zum Ergebnis, dass Kolberts Haut ebenso gesund war wie die eines normalen Neugeborenen.
Zu ihrem Erstaunen entdeckten die Ärzte in Kolberts Haut jedoch statt der sonst beim Menschen üblichen Farbzellen sogenannte Chromatophoren, wie man sie bisher nur von verschiedenen Tieren oder Pflanzen her kannte.
Die Pigmentzellen der menschlichen Haut lieferten gewöhnlich gelbbraune bis schwarze Farbstoffe und sorgten so für eine hellere oder dunklere Tönung. Zusammen mit dem unter der Haut liegenden Muskelgewebe ergab sich so ein Farbton zwischen Zartrosa und Braun.
In Kolberts Haut gab es drei verschiedene Arten von Pigmentzellen, für jede der drei Grundfarben eine. Und daraus ließen sich wie bei einem Farbdrucker sämtliche Nuancen von Transparent bis Schwarz erzeugen.
Außergewöhnlich war, dass hier neben den für den gelblichen Farbstoff zuständigen Zellen zwei weitere äußerst seltene Zellarten auftauchten. Sie sorgten dafür, dass der Haut auch die Farben Türkisblau und Purpurrot zur Verfügung standen.
Im Augenblick schien Kolbert nur in der Lage zu sein, sämtliche Farbzellen gleichzeitig zu steuern. Was auch die einheitliche Graufärbung seines ganzen Körpers erklärte. Die Hautärzte, die ihn untersuchten, kamen jedoch zu dem Schluss, dass Kolbert mit der Zeit und entsprechender Übung alle Pigmentzellen so kontrollieren könnte, dass zumindest theoretisch ein beliebiger Farbwechsel der Haut möglich war.
Und tatsächlich änderte sich seine Hautfarbe nach einigen Wochen vom hellen Grau zuerst zu einem hellen reinen Gelb, um dann allmählich wieder zum Grau zurückzukehren und dabei zu bleiben. Etwa einen Monat später wiederholte sich der Wandlungsprozess mit einer anderen Grundfarbe. Nun nahm seine Haut eine hellblaue Tönung an, die leicht grünlich schimmerte. Dann verfärbte sie sich wieder ins alte Grau. In einem dritten Durchgang wurde seine Hautfarbe zu einem zarten Lila, um schließlich wieder ins Graue zurückzuwandern.
Einige Male entstanden auf Kolberts Haut noch andere Verfärbungen, wobei die komplette Haut jedoch immer durchgängig dieselbe Farbe annahm. Wie die Hautärzte vermuteten, war Kolbert bemüht, zu einer Tönung zu gelangen, die der Hautfarbe der Menschen, die er um sich hatte, möglichst nahekam.
Alles in allem – befanden die untersuchenden Ärzte schließlich – ein durchaus gesundes, wenn auch besonderes Kind. »Ausgestattet mit Eigenheiten, die eben nicht jeder Mensch hat«, wie es einer der Dermatologen formulierte.
»Darauf können Sie stolz sein!«, meinte der Arzt, der schon bei Kolberts Geburt zugegen war, zur Mutter, als die zusammen mit ihrem Mann zum Nachuntersuchungstermin erschien. Die aber blieb ebenso wie Kolberts Vater skeptisch.
»Die Diagnosen sind noch nicht abgeschlossen«, fuhr der Arzt fort. Und forderte die Eltern auf, Kolbert im Abstand von jeweils 14 Tagen immer wieder für mindestens einen Tag in die Klinik zu bringen.
Zuerst stimmten beide Eltern zu. Aber nach nicht einmal einem Vierteljahr empfand die Mutter diesen Zustand als so unerträglich, dass sie sich weigerte, weitere Untersuchungen an Kolbert zu erlauben. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Kind den Ärzten nur als interessantes Objekt für ihre Forschungen diente. Und dazu in verschiedenen Abteilungen herumgereicht wurde.
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