Ich hatte befürchtet, dass einige Leute zum Baden zum Weiher gekommen wären, doch außer uns war keine Menschenseele im Schatten der Bäume zu sehen. Aber wo das Wasser einem auch nur bis zum Bauchnabel reichte und der Grund ziemlich schlammig war, bevorzugten die meisten Leute wohl doch das Freibad im Nachbarort. Wir setzten uns auf die Bank unterhalb der Trauerweide. Aber Marion war nicht sonderlich konzentriert an diesem Nachmittag.
Schon nach einer Viertelstunde meinte sie: „Es ist einfach zu heiß.“
Sie zupfte an ihrem verschwitztem T-Shirt.
„Da kann ich nicht richtig denken.“
„Wir können’s ja auch lassen heute“, erwiderte ich und fügte dann hinzu: „Immerhin sind Ferien.“
Sie nickte dankbar und einen Moment herrschte Schweigen. Dann ging ein Ruck durch Marion und sie streifte sich die Sandalen ab.
„Jetzt wo ich schon mal hier bin kann ich zumindest die Füße hineinhalten“, und sie watschelte vorsichtig durch das Gras und Laub zum Ufer. Der Hund, der im Schatten döste, blickte kurz zu ihr auf, ließ dann seinen Kopf wieder fallen.
„Meinst du, es ist tief?“, fragte sie und streckte ihre Zehen ins Wasser.
„Man kann den Grund nicht sehen.“
„Zu tief auf jeden Fall, um ganz hindurchzuwaten“, erwiderte ich und beobachtete sie aufmerksam.
Sie sah sehr hübsch aus in dem luftigen Rock. Wie eine Ballerina. Ihre langen Beine waren noch gebräunt von der italienischen Sonne.
„Du würdest mich im Zweifel doch retten, nicht wahr?“, fragte sie lachend, fügte dann hinzu: „Auch wenn ich nicht deinesgleichen bin!“
Damit meinte sie einmal wieder, dass ich es mit den Naturwissenschaften und sie es mit den Künsten hatte und freute sich über ihre Anspielung.
„Ich weiß nicht“, erwiderte ich grinsend: „Das Wasser riecht nach Moder.“
Sie verzog tadelnd den Mund, ließ sich dann vorsichtig an einem Ast hinab ins Nass, tastete mit dem Fuß nach dem Grund.
„Ihhhh“, meinte sie und lachte: „Das ist ja ganz glitschig da unten“, und sie suchte nach einem festen Stand. Das Wasser reichte ihr weit übers Knie, so dass sie ihren Rock raffen musste. Sie stieg jetzt auch mit dem anderen Bein ins Wasser, stand dann etwas unbeholfen in der brackigen Suppe. Ihren Rock hielt sie mit beiden Händen.
„Willst du nicht auch hineinkommen?“, fragte sie.
„Es ist angenehm kühl.“
„Eigentlich nicht“, erwiderte ich trocken.
„Ich weiß nicht, ob Ihnen das schon einmal einer gesagt hat, aber Sie sind ein Langweiler, Herr Wenk. Ein Langweiler, jawohl!“, erklärte sie lachend.
„Und ein Spielverderber“, fügte ich hinzu.
„Vielleicht hast du guter Katholik auch Angst davor, dich zu amüsieren“, erklärte sie und watete dann langsam voran.
„Oder aber ich habe Angst vor den Egeln“, erwiderte ich nüchtern.
„Welchen Egeln, denn?“, fragte sie und sah mich skeptisch an.
„Den Sumpfegeln“, und auf ihren fragenden Blick, erläuterte ich wie selbstverständlich: „Wie Blutegel sehen die aus, sind aber ein bisschen kleiner.“
Sie sah mich ermahnend an: „Das ist nicht lustig, Konrad“, fragte dann nach: „Es gibt hier doch nicht echt solche widerlichen Dinger, oder?“
„Natürlich nicht“, erwiderte ich lächelnd: „Nur ein wenig origineller Scherz meinerseits.“
„Hilf mir lieber hier raus, ja?“, bat sie mich nun und kam auf das Ufer zu.
„Jetzt ist es mir hier drin irgendwie unheimlich geworden“, und sie rümpfte die Nase. Ich erhob mich also und zog sie dann mit beiden Händen hinauf auf die Wiese. Schwungvoll landete sie im saftigen Gras.
Einen Moment standen wir wie erstarrt da, noch immer ihre Hände in den meinen. Filigran und fein waren ihre Finger. Marion sah mich seltsam unverwandt an. Dann entzog sie mir eilig ihre Hände und boxte mir in den Oberarm: „Das war nicht nett, Konrad“, doch ihr Tonfall konnte nicht über ihre Unsicherheit hinwegtäuschen.
„Dann lass uns mal zurückgehen, ja?“, meinte sie und zog sich ihre Sandalen wieder an. „Meine Cousinen vermissen mich sicherlich schon. – Außerdem habe ich jetzt das dringende Bedürfnis nach einer Dusche.“
Auf dem Rückweg fiel kaum ein Wort zwischen uns.
Ich fragte mich, was in ihr vorging. Offensichtlich war sie über etwas erschrocken. Und tatsächlich hatte ich befürchtet, das dies geschehen könnte, war ich bisher jeglicher Berührung oder sonstiger Intimität aus dem Weg gegangen. Dabei musste sie doch wohl schon längst bemerkt haben, was ich für sie empfand und das meine Gefühle über kameradschaftliche Zuneigung weit hinausgingen. Warum sonst hätte ich es wohl auf mich genommen, bei Wind und Wetter ihren Hund auszuführen oder meine knapp bemessene Freizeit für lateinische Übersetzungen zu opfern? Oder hatte sie etwa bemerkt, dass sie ebenso empfand wie ich? Dass sie sich in mich, den Bruder ihres Freundes, verliebt hatte? Aber so oder so: Ich würde Fred nicht seine Freundin abspenstig machen. Immerhin war er mein Bruder.
Wir gingen etwas verhalten auseinander an diesem Abend und ich fürchtete, dass nun alles verdorben wäre. Doch als ich am nächsten verregneten Nachmittag vor ihrer Tür stand, um Gretchen auszuführen, da schien mir alles wieder beim Alten. Und wenn gleich die Nachhilfestunden nun etwas professioneller verliefen, so ging Marion mir nun genauso wenig aus dem Weg, wie sie meine Nähe suchte. Dennoch wurde ich das Gefühl nicht los, dass von diesen Nachmittag am Weiher an etwas zwischen uns stand. Oder nur eine Einbildung meinerseits? Ich war mir nicht ganz sicher, traute mir selbst nicht mehr.
*
Im Herbst dann trennte sich Marion von meinem Bruder. Es war eine seltsame Angelegenheit. Eines verregneten Tages kam Fred sehr aufgelöst nach Hause, den Motorradhelm unterm Arm stand er einen ganzen Moment im Flur und die Tropfen liefen von seiner Jacke auf den Fußboden, dass Mutter sich beschwerte, als sie es sah. Als er dann in sein Zimmer trottete, wischte ich erst den Boden, klopfte dann vorsichtig an.
Zu diesem Zeitpunkt war Fred bereits in den Lagerraum umgezogen. Eines Morgens, da waren wir wohl vierzehn oder fünfzehn gewesen, hatte er verkündet, er bräuchte ein eigenes Zimmer und so hatte ich ihm geholfen, sich dort unten in dem Raum mit dem vergitterten Fenster einzurichten. Sein Bett hatten wir heruntergebracht, den Schreibtisch, den Stuhl und eine Kommode. Und so wohnte er von diesem Tag an zwischen den Kartons und Kisten.
Manchmal nahm er Freunde mit zu sich und auch Marion hatte mit ihm alle Zeit in dem kleinen Zimmer verbracht, hatte sich kaum ins Wohnzimmer oder die Küche gewagt. Manchmal war sie auch über Nacht geblieben, dann hatte ein unterschwelliges Kichern das Haus erfüllt. Häufig jedoch hatte sie nicht bei uns übernachtet, eher war Fred des Nachts hinüber zu ihr geschlichen. Denn Marions Vater hatte die Beziehung nur ungern gesehen.
„Fred?“, fragte ich zögerlich: „Darf ich hineinkommen? Was ist denn los?“
Eine ganze Weile rührte sich überhaupt nichts, und ich erinnerte mich an frühere Zeiten, wenn Fred sich eingeschnappt und beleidigt in sein Zimmer zurückgezogen hatte. Den Vorsatz jedoch, nie mehr mit mir zu sprechen, hatte er nie länger als eine Viertelstunde einhalten können. Wohl auch, weil er nach dem Verrauchen der ersten Wut rasch hatte einsehen müssen, dass ich im Grunde – wie immer eigentlich – im Recht war. Dieses Mal jedoch schien er weder zornig noch beleidigt, nein viel mehr niedergeschlagen und das war trotz seiner üblichen völlig übertriebenen geradezu theatralischen Gefühlsausbrüchen beunruhigend. So nämlich hatte ich ihn noch nie erlebt. Ich klopfte ein weiteres Mal an, Fred zeigte jedoch erneut keine Reaktion. Einen Moment überlegt ich, ob ich nicht einfach eintreten sollte, Höflichkeit hin oder her, dann jedoch packten mich Zweifel. Wir waren beide keine Kinder mehr. Ich hatte kein Recht, mich über seine Wünsche hinwegzusetzen. Und ganz offensichtlich wollte er jetzt seine Ruhe. Ich klopfte noch ein letztes Mal, weil drei mir eine gute Zahl zu sein schien, hatte mich aber bereits zum Gehen gewandt, als sich die Tür einen Spalt breit öffnete. Fred schien tatsächlich geweint zu haben. Ich versuchte seine verklebten, rötlich geschwollenen Augen zu ignorieren. - Ich hatte angenommen, er wäre mittlerweile in der Lage, sich zumindest ein wenig zusammenzunehmen.
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