Jörg Olbrich
Hilmer
Der Lemming, der nicht sterben wollte
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Inhaltsverzeichnis
Titel Jörg Olbrich Hilmer Der Lemming, der nicht sterben wollte Dieses ebook wurde erstellt bei
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Impressum neobooks
„Ich halte es für keine gute Idee, was wir hier tun“, sagte Hilmer und schaute seine drei Vettern skeptisch an.
„Warum?“, fragte Turgi überrascht. „Es steht doch schon ewig fest.“
„Das macht die Sache nicht besser“, erwiderte Hilmer.
„Was soll das auf einmal?“, regte sich Turgi auf.
„Wir warten nun schon seit Monaten auf diesen Tag“, sagte Targi.
„Du solltest froh sein, dass es endlich so weit ist“, stimmte Torgi seinen Brüdern zu.
Hilmer stand mit seinen Vettern inmitten eines wahren Heeres von Lemmingen am Fuße des Schicksalsberges. Alle warteten darauf, den Aufstieg zum Todesfelsen beginnen zu dürfen, wo ihr Leben genau fünfzehn Monate nach ihrer Geburt enden sollte. Genau wie bei Millionen von Lemmingen vor ihnen und sicherlich nicht weniger nach ihnen. So war es Brauch. So musste es geschehen. Keiner konnte etwas dagegen tun.
Genau genommen gab es niemanden, der etwas dagegen tun wollte.
Außer Hilmer.
Der fasste in diesem Moment den Entschluss, dass er auf keinen Fall an diesem Irrsinn teilnehmen wollte.
In seinem bisherigen Leben hatte Hilmer diesem Tag entgegengefiebert. Wochenlang hatte er sich mit seinen Vettern auf diesen Tag vorbereitet. Sie hatten davon geschwärmt, wie es wohl in der Totenwelt sein würde, in der alles besser war und kein Lemming sich darüber Gedanken machen musste, ob es zu viele von ihnen gab. Dort würde genügend Platz für alle sein. Niemand müsste auf etwas verzichten.
Jetzt, wo sein geplanter Todestag gekommen war, fand Hilmer es gar nicht mehr so erstrebenswert, sich von der Klippe in den Tod zu stürzen. Er beschloss, Turgi, Targi und Torgi davon zu überzeugen, dass es besser sei, zurück nach Hause zu gehen.
„Nur weil sich alle anderen Lemminge in den Tod stürzen, heißt das nicht, dass wir hinterher springen müssen“, erklärte Hilmer seinen Vettern.
„Aber so will es das Gesetz“, sagte Turgi.
„Wo steht das?“, setzte Hilmer dagegen.
„In den heiligen Schriften des furchtlosen Wonibalts“, antwortete Turgi.
„Hast du sie gesehen?“
„Natürlich nicht“, gab Turgi zu. „Niemand außer dem König hat das.“
„Was soll das, Hilmer?“, stand Torgi seinem Bruder bei. „Du weißt doch, dass nur Helmut die Aufzeichnungen des Propheten kennt.“
„Eben“, sagte Hilmer. „Darum weiß auch keiner, ob es stimmt, was uns der König erzählt. Vielleicht legt er die heiligen Thesen ja falsch aus.“
„Lass das bloß keinen der Wachleute hören“, warnte Turgi.
„Helmut lässt nicht zu, dass man schlecht über ihn redet“, ergänzte Targi.
„Wenn sie dich erwischen, bist du dran“, warnte Torgi.
„Was soll mir denn passieren?“, fragte Hilmer verblüfft. „Wenn ich die Klippen runterspringe, bin ich tot. Was kann schlimmer sein? Ich gehe jetzt nach Hause.“
„Das kannst du nicht machen!“
„Doch, Targi. Das kann ich und das werde ich auch.“
„Dann bist du kein richtiger Lemming“, warf Turgi seinem Vetter vor.
„Du solltest dich schämen“, ergänzte Targi.
„Deine Eltern würden sich im Grabe herumdrehen“, behauptete Torgi.
„Ihr seid doch nicht mehr ganz dicht“, sagte Hilmer und beschloss, sich von seinen Vettern nicht weiter aufhalten zu lassen. Er drehte sich um und ging die Straße hinunter in Richtung Stadt.
„Warte!“, schrie Torgi und nahm die Verfolgung auf, weil Hilmer einfach weiterging. Turgi und Targi blieb nichts anderes übrig, als sich ihrem Bruder anzuschließen. Die drei waren fest entschlossen, Pfote in Pfote von den Klippen zu springen. Dieses Versprechen wollte keiner der Brüder brechen.
An der Kreuzung zur Hauptstraße, wo der Weg in Richtung Todesfelsen abzweigte, holten Turgi, Targi und Torgi ihren Vetter ein, der dort von einem Wächter festgehalten wurde. Dieser wiederum war völlig überrascht, plötzlich tätig werden zu müssen. Die Stellen in der Garde des Königs waren sehr beliebt, weil sie gut bezahlt wurden und mit sehr wenig Arbeit verbunden waren. Dies war auch der Grund dafür, dass die meisten Mitglieder dieser Einheit unter starkem Übergewicht litten.
„Was soll das heißen? Du willst nicht?“, blaffte der Lemming, nahm seine Zigarre aus dem Mund und starrte Hilmer sichtlich irritiert an.
„Ich habe keine Lust, von dem Felsen in den Tod zu springen. Ich will weiterleben.“
„So ein dummes Zeug hat vor dir noch keiner geredet“, sagte der Wächter grinsend. „Du musst völlig den Verstand verloren haben.“
„Ich meine es todernst.“
Helmuts Helfer schien mit der Situation völlig überfordert zu sein. Niemals hatte er erlebt, dass ein Lemming den Hang wieder herunterkam. Normalerweise bestand seine Aufgabe darin zu verhindern, dass sich einer seiner Artgenossen in den Tod stürzte, bevor er seinen fünfzehnten Lebensmonat vollendet hatte. Unsicher wechselte er den Blick von Hilmer zu den drei Brüdern, die nun ebenfalls neben dem Wachhäuschen stehen geblieben waren.
„Was ist mit euch?“, fragte der Lemming barsch. „Weigert ihr euch ebenfalls, den uns vorbestimmten Weg zu gehen?“
„Selbstverständlich nicht“, entrüstete sich Turgi.
„Das würden wir niemals tun“, bestätigte Targi.
„Wir sind ehrenvolle Lemminge“, versicherte Torgi.
„Ihr seid Spinner“, sagte Hilmer und schickte sich an, seinen Weg in die Stadt fortzusetzen.
„Halt“, schrie der Wächter und baute sich vor dem Flüchtigen auf. „Ich kann das nicht dulden.“
„Was willst du dagegen tun?“, fragte Hilmer grinsend. Er wusste genau, dass sein Verhalten ein einzigartiger Skandal war. Nie zuvor hatte ein Lemming so reagiert. Es gab keine dafür festgesetzte Strafe.
„Ich werde dich zu König Helmut bringen. Soll er entscheiden, was mit dir geschieht.“
„Du kannst mich nicht gegen meinen Willen irgendwo hinbringen“, stichelte Hilmer weiter.
„Wenn wir ihm helfen schon“, sagte Turgi.
„Ihr wollt euch tatsächlich gegen euren Vetter stellen?“, fragte Hilmer.
„Ja“, antwortete Targi. „Wir können nicht zulassen, dass du Schande über unsere Familie bringst.“
„Helmut wird schon eine Lösung einfallen“, bekräftigte Torgi. „Er wird nicht wollen, dass sich andere ein Beispiel an dir nehmen.“
Hilmer blieb nichts anderes übrig, als Turgi, Targi und Torgi in den Palast zu folgen. Er war selbst gespannt darauf, wie Helmut reagieren würde. Angst hatte er nicht. Keine Strafe konnte schlimmer sein als der Tod. Das war ihm an diesem Tag klar geworden. Die drei Brüder nahmen ihren Vetter in die Mitte, um einen Fluchtversuch im Keim ersticken zu können. Der Wächter blieb an seinem Platz und bewachte weiter den Hang, der zum Todesfelsen führte.
„Wollt ihr Schwachköpfe mich verarschen?“, schrie Helmut und sprang von seinem Thron auf. „So einen Unsinn habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gehört.“ Der König sah die beiden Lemminge vor sich mit finsterem Blick an.
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