„So verhält sich ein Lemming nicht“, stellte Torgi fest.
„Passt auf, dass euch der Kerl nicht wieder entwischt“, sagte der Wächter zum Abschied und sah Turgi, Targi, Torgi und Hilmer kopfschüttelnd nach. Beim abendlichen Bier in der Taverne, würde er seinen Kollegen etwas zu erzählen haben. Die Kunde, vom Lemming der nicht sterben wollte, würde die Runde machen und weitere Zweifler auf den Plan rufen, die Hilmers Ansichten vielleicht teilten. König Helmut konnten die Entwicklungen nicht gefallen. Ganz und gar nicht.
Diesmal machten die Lemminge den Brüdern keinen Platz. Inzwischen hatte jeder von ihnen Angst, es vor Einbruch der Dunkelheit nicht mehr nach oben zu schaffen. Zu lange schon standen sie selbst am Hang und warteten darauf, den Todesfelsen endlich zu erreichen. Die Sonne hatte ihren höchsten Stand schon lange überschritten, als die vier die Kante erreichten, von der aus sie in die Tiefe springen konnten.
Hilmer hatte sich den ganzen Weg über nicht mehr gewehrt und seine Vettern so in Sicherheit gewiegt. Das änderte er nun. Ehe einer der Brüder überhaupt reagieren konnte, stürmte der vermeintliche Volksverräter zwischen Turgi, Targi und Torgi hindurch und ließ sich einfach in den Abgrund fallen. Die genaue Lage des Busches hatte er sich gemerkt und baute darauf, dass er ihn auch diesmal auffangen würde.
„Du bist ein verdammter Drecksack“, brüllte Turgi seinem Vetter nach, konnte ihn aber nicht aufhalten.
Hilmer ließ sich nicht beirren. Wie bereits am Vormittag schaffte er es, den Busch als Halt zu nutzen. Er schaute nach oben, um seinen Vettern ein paar hämische Worte zuzurufen und erschrak, als er sah, dass ihm Turgi hinterhergesprungen war.
„Diesmal entkommst du uns nicht“, schrie Targi und folgte seinem Bruder.
Auch Torgi schien zu allem entschlossen zu sein. Er ließ sich fallen, um die Jagd auf den Verräter aufzunehmen. Hilmer musste sich jetzt beeilen, wenn er nicht doch noch erwischt werden wollte, und begann mit dem Abstieg.
„Ich kriege dich“, zischte Turgi, der sich an einem Ast festhielt, und nur noch wenige Meter von Hilmer entfernt war.
Der Flüchtling hetzte den steilen Hang hinunter und musste dabei aufpassen, nicht den Halt zu verlieren. Gegenüber seinen Verfolgern hatte er den Vorteil, dass er diesen Weg schon einmal gegangen war. Abschütteln ließen sich die drei Brüder aber trotzdem nicht.
„Hilmer, bleib stehen!“, schrie Turgi, als sie den Boden erreichten, doch der rannte weiter, als säße ihm der Teufel persönlich im Nacken.
„Wir kriegen dich!“, ächzte Targi, der Hilmer am dichtesten auf den Fersen war.
„Damit kommst du nicht durch!“, fluchte Torgi und bückte sich nach einem Stein. Mit diesem zielte er auf seinen Vetter und warf.
Hilmer spürte einen Schlag gegen den Hinterkopf. Er kam ins Straucheln und fiel. Ehe er auch nur einen Versuch unternehmen konnte, aufzustehen und seine Flucht fortzusetzen, waren Turgi und Targi bei ihm. Die beiden Lemminge prügelten auf ihren Vetter ein, bis dieser das Bewusstsein verlor.
„Hilmer, du bist ein Querulant!“, sagte Helmut und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf den ehrlosen Lemming.
Der stand zwischen seinen Vettern und hätte sich am liebsten in einem Erdloch verkrochen. Sein Schädel brummte und, wenn er an die Stelle fasste, wo in der Stein getroffen hatte, konnte er die stetig anwachsende Beule fühlen. Die Schmerzen waren unerträglich.
„Meinst du nicht auch, dass du uns langsam genug Scherereien gemacht hast?“, wollte der König wissen.
„Nein“, antwortete Hilmer. „Ganz im Gegenteil. Ich werde mich nicht freiwillig beugen und um mein Leben kämpfen.“
Helmut war sichtlich überrascht und runzelte die Stirn. „Du wirst zugeben müssen, dass du jetzt nicht mehr viel ausrichten kannst. Du hast verloren.“
„Noch lebe ich.“
„Nicht mehr lange“, sagte Helmut und grinste Hilmer dämlich an.
„Das hast du schon einmal gesagt.“
„Diesmal werde ich es aber nicht drei völlig verblödeten Witzfiguren überlassen, dich umzubringen, sondern die Sache selbst in die Pfote nehmen.“
„Wir können nichts dafür, dass der Kerl noch lebt“, entrüstete sich Turgi.
„Wir haben unser Bestes gegeben“, sagte Targi.
„Es gibt keinen Grund, uns die Schuld in die Schuhe zu schieben“, stellte auch Torgi fest.
„Haltet die Klappe und setzt euch in die Ecke“, sagte Helmut entschieden. „Mit euch werde ich mich später beschäftigen.“
Hilmer gewann den Eindruck, dass der König wesentlich ausgeglichener war als am Vormittag. Seine Laune hatte sich erheblich gebessert, obwohl er sich immer noch mit einem Ungläubigen auseinandersetzen musste, dessen Ansichten ihn aufregten. Auch Dieter stellte ein zufriedenes Grinsen zur Schau. Der fette Hamster lag neben dem Thron und streckte alle viere von sich, als gingen ihn die Probleme des Königs nichts an. Die beiden hatten offensichtlich einen vergnüglichen Mittag hinter sich.
„Dein Mut imponiert mir“, sagte der König schließlich. „Du wirst aber einsehen müssen, dass ich nicht dulden kann, dass sich einer meiner Untertanen offen gegen die Lehren des furchtlosen Wonibalts stellt. Ich verliere an Glaubwürdigkeit, wenn ich dich am Leben lasse.“
„Es muss ja keiner wissen“, sagte Hilmer. Für einen Augenblick sah er eine Chance, dass ihn Helmut doch noch verschonen würde.
„Ich habe eine bessere Idee“, sagte der König. „Wir werden dich öffentlich hinrichten und dem Volk damit zeigen, dass der vorbestimmte Weg eingehalten werden muss. Außerdem wird den Leuten das Spektakel gefallen. Sie freuen sich über jede Abwechslung in ihrem langweiligen Leben.“
Hilmer seufzte enttäuscht. Es wäre auch zu schön gewesen, wäre der König von seinen grotesken Vorstellungen abgewichen. Im Moment wusste er nicht, wie er Helmut und seinen Mannen entkommen konnte. Auch seine hirnlosen Vettern würden sich ganz sicher weiterhin gegen ihn stellen. Hinzu kamen die nach wie vor mörderischen Kopfschmerzen. Die Lage wurde immer hoffnungsloser.
„Wie soll der Verräter denn sterben?“, fragte Turgi neugierig.
„Wir haben noch nie von einer Hinrichtung gehört“, sagte Targi.
„Das wird ein Riesenspaß“, freute sich Torgi.
„Ich habe euch gesagt, ihr sollt still sein“, fuhr Helmut die drei Brüder an. Dann wandte er sich an seinen Berater. „Wach auf Dieter. Wir haben ein Problem.“
„Ich schlafe nicht“, sagte der Hamster und setzte sich auf. Sein Bauch reichte dabei bis auf den Boden und schien auch seinen Kopf nach unten zu ziehen.
„Hast du eine Idee, wie wir den Kerl in Wonibalts Reich schicken können?“
„Ich dachte, Hilmer kommt nicht in das gelobte Land“, rief Turgi überrascht.
„Er hat diese Ehre nicht verdient“, regte sich Targi auf.
„Das ist ungerecht“, moserte Torgi.
„Ihr sollt die Klappe halten!“, schrie Helmut. „Wenn ihr euch noch einmal einmischt, werde ich dafür sorgen, dass auch ihr niemals ins Angesicht des Propheten blicken werdet!“
Während Helmuts Gesicht sich vor Wut rot färbte, musste sich Hilmer ein Grinsen verkneifen. Es war nicht leicht, längere Zeit mit Turgi, Targi und Torgi in einem Raum zu sein. Dies hatte er in den letzten fünfzehn Monaten zur Genüge erfahren. Trotz seiner prekären Situation bereitete es ihm Spaß zu sehen, wie der König wegen der drei Spinner langsam die Geduld verlor.
„Wir könnten ihn von den Klippen werfen“, sagte Dieter nach einer Weile und lächelte seinen Chef an.
„Bist du eigentlich völlig bescheuert? Das haben diese drei Vollidioten schon zweimal versucht. Wir müssen eine andere Möglichkeit finden.“
Turgi schien sich gegen diese Bemerkung wehren und zu einer Erwiderung ansetzen zu wollen, schluckte die Worte aber herunter, als er den drohenden Blick sah, den der König ihm zuwarf.
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