„Ich glaube, ich werde auch schlafen gehen“, sagte er, „es war ein langer Tag, und ich habe wohl etwas zu tief ins Glas geschaut.“
„Du weißt ja“, lallte Axel, und er machte einen Eindruck dabei, als hätte man die Luft aus ihm gelassen, „ihr habt oben die beiden Gästezimmer; du kennst ja den Weg. Ich werde noch etwas trinken.“
Axel sah Horst an. „Wollen wir uns noch etwas unterhalten? Ich würde mich freuen.“
Horst fragte sich, was mit Axel los war. Er sah müde und abgeschlafft aus und doch irgendwie gereizt und aufgedreht, als ob er Schmerzen litte.
„Gerne“, sagte Horst, „ich bin überhaupt noch nicht müde.“
Ramsch gähnte wieder. „Also dann, ich leg mich schlafen. Gute Nacht.“ Er verließ das Zimmer.
In Axels Gesicht stand etwas für Horst undefinierbares geschrieben. Das Sprechen schien ihm schwer zu fallen: „Entschuldige mich einen Moment, ich muss mich frisch machen.“ Er hatte die Worte hervorgepresst, wie unter schwerer körperlicher Belastung. Er ging los Bad und holte aus einem kleinen Spiegelschrank sein Werkzeug, das er jetzt dringend brauchte, um sich neue Energie in die Venen zu schießen. Die Vorbereitungen nahmen nur kurze Zeit in Anspruch, denn er hatte Routine. Seit ein paar Monaten fixte er Heroin, und er konnte sich ein Leben ohne diese Droge nicht mehr vorstellen. Nachdem er sich den „Druck“ gesetzt hatte, blieb er noch eine Minute auf dem Wannenrand sitzen; dann fühlte er sich wie neu geboren.
Als er zu Horst zurückkam, schien es diesem, als hätte er einen ganz neuen Menschen vor sich. Aufrecht und beschwingt, Zufriedenheit und Selbstsicherheit in den Zügen, strotzte er vor neuer Energie. Horst konstatierte dies mit leichter Verwunderung.
„So mein Freund“, sagte Axel, „jetzt lass uns noch etwas trinken.“ Er setzte sich in einen breiten Sessel, „Und erzähl mir etwas von dir.“
Die beiden kamen rasch ins Gespräch, und nach einer viertel Stunde war Horst der Meinung, nie jemanden getroffen zu haben, mit dem er sich besser hatte unterhalten können. Die Nacht wurde lang und aufregend für die beiden frisch gebackenen Freunde. Dies ganz besonders für Horst. Er liebte, und ließ sich lieben, mit einer Hingabe, die ein normalempfindender Mensch (sofern es normale und unnormale Empfindungen gibt) nur zwischen heterosexuellen Partnern für möglich halten mochte, und dies vor allem, was das seelische Empfinden anbelangte.
Es gibt viele Möglichkeiten, einen Menschen erpressbar zu machen. Immer kommt es auf die individuellen Gegebenheiten des Menschen an. Horst konnte nicht ahnen, dass diese Nacht die Einleitung zu einer Katastrophe war. Eine Katastrophe für ihn, und für viele Menschen in seiner Umgebung.
11
Horst sah auf die Uhr. Es wurde Zeit, er musste sich langsam aufmachen. Seine Mittagspause ging dem Ende zu. Mein Gott, dachte er, wie konnte das passieren, wie konnten wir uns von Tommy in einer solchen Situation beobachten lassen. Wenn ich wenigstens nicht vor Axel gekniet hätte und... oh nein, das darf nicht wahr sein! Wenn das jemals rauskommt, was wird das… nein, nein, lieber Gott hilf mir, bitte hilf mir, schaff es aus der Welt... ich ertrage das nicht, ich kann nicht, ich... Tief deprimiert machte sich Horst zu seiner Arbeitsstelle auf.
12
In der kleinen Kapelle, die Tommy zu seinem Hauptquartiermachen wollte, roch es nach altem Holz, nach Staub und nach Frömmigkeit. Seit zehn Minuten war Tommy bereits dabei, die Blumenvasen, die auf dem Altar standen, beiseite zu räumen, um Platz für seine versprochene Überraschung zu haben. Mit der Fertigkeit eines Dekorateurs stellte er drei Flaschen Schnaps, eine Schachtel Pralinen, eine Kiste Zigarren und drei Schachteln Zigaretten auf, so dass sie wie Opfergaben auf dem Altar wirkten. Tommy war noch damit beschäftigt, als die Tür aufging, und der kleine Stefan Stock die Kapelle betrat.
„Hallo Tommy, b-boh, w-watt ma-machse denn d-da?“
„Na, du bist doch nicht blind, oder? Wir werden gleich die Gründung unserer Organisation kräftig begießen.“ Stefan stand mit offenem Mund da und kam aus dem Staunen gar nicht mehr her- aus.
„W-wo ha-hasse denn d-datt her?“
„Das lass mal meine Sorge sein“, murrte Tommy, „ich kann dir nur sagen, dass ich noch ganz andere Dinge besorgen kann.“
Es dauerte nicht lange, da kamen die anderen Klassenkameraden einer nach dem anderen angetrudelt. Zufrieden stellte Tommy fest, dass keiner der Jungen, die am Vormittag auf dem Spielplatz versammelt gewesen waren, fehlte. Die bunten, mitreligiösen Motiven versehenen Fenster, die ohnehin sehr kleinwaren, ließen nicht viel Licht in die Kapelle, und so hatte Tommy die Kerzen, die den Altar noch schmückten, angezündet, so dass der Raum in ein schummriges Zwielicht getaucht war. Die Augen der Jungen blitzten vor freudiger Erwartung, nachdem sie die Dinge gesehen hatten, die auf dem Altar aufgestellt waren. Tommy hatte es so erwartet, dass nämlich seine Idee Wirkung zeigen würde.
„Leute“, sagte er, „wir werden, bevor wir zum gemütlichen Teil übergehen, erst einmal besprechen, wie ich mir...ich meine, wie wir uns den Aufbau unserer Organisation vorstellen. Vor allem eines ist sehr wichtig“, Tommy machte eine Kunst-pause, wie er es den politischen Rednern im Fernsehen abgesehen hatte, „wir müssen immer daran denken, dass wir nur dann stark sind, wenn wir alle an einem Strick ziehen; das heißt, wenn wir, was auch immer geschehen mag, zusammenhalten, nie von einem unserer Mitglieder befürchten müssen, verraten zu werden, und wenn jeder unbedingt an das Gute unserer Organisation glaubt, an den Sinn und an die Macht, die wir ausüben können, wenn wir nur wollen!“
Die Jungen sahen gebannt auf Tommy. Dieser fuhr fort: „Ihr wisst alle, warum ich überhaupt die Idee hatte, einen Verein zu gründen. Und ihr denkt über dieses Problem genauso wie ich. Darum bleibt uns, das heißt der jungen Generation, nichts anderes übrig, als dafür zu sorgen, dass das Leben in unserer schönen Heimat wieder erträglich wird. Die ältere Generation, das heißt unsere Eltern und Großeltern, sind mit einigen Ausnahmen anscheinend nicht dazu fähig, dieses Problem aus der Welt zu schaffen. Das liegt wohl daran, dass sie sich zu sehr von denen abhängig fühlen, die das Problem, nämlich die Ausländer, ins Land holen. Ihnen sind die Hände gebunden, aber uns nicht! Wir“, Tommy machte wieder eine Kunstpause, „wir sind zwar Kinder, denen man nicht viel zutraut, aber wir haben auch unseren Geist, wir haben auch unsere Intelligenz, wir sind auch vollwertige Mitglieder unserer Gesellschaft! Und zu ihrem Wohlergehen müssen wir das Unsere beitragen. Und ich meine, wir können das auch! Wird es nicht so sein, dass unsere Eltern und Großeltern uns dankbar sein werden, wenn wir ihnen ein Problem, das sie schon lange drückt, vom Hals schaffen? Werden sie nicht stolz darauf sein, solche Nachkommen zu besitzen? Nachkommen, die sich Gedanken über das allgemeine Wohl machen, die mithelfen, ein Übel, unter dem sie zu leiden haben, aus der Welt zu schaffen? Oder sagen wir, zumindest aus dem Weg zu räumen? Muss es nicht im Interesse jedes Deutschen liegen, unser schönes deutsches Land reinzuhalten von der Überfremdung durch Gastarbeiter, von der wir bedroht sind? Ist es nicht so, dass die Arbeitsplätze, die eigentlich unseren Leuten zustehen von Gastarbeitern, und noch dazu von schmierigen Türken besetzt sind, und unser Lebensstandard dadurch sinkt, dass viele unserer Väter arbeitslos sind?“
Die Jungen standen gebannt da, man konnte die Wirkung von Thomas' Worten auf ihren Gesichtern ablesen, Thomas Bunzlau hatte sich vorher genau überlegt, was er sagen würde. Er wusste genau, wie er mit diesen Jungen reden musste. Thomas Bunzlau war ein phänomenales Kind! Er hatte genau das, was die Menschen auszeichnete, die anscheinend dazu berufen waren, Menschenmassen in ihren Bann zu ziehen; unabhängig davon, ob dies zu ihrem Nutzen oder ihrem Schaden geschah. Er setzte seine Rede fort:
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