>Ich lege mich lieber noch etwas aufs Ohr. Wird ein langer Tag im Studio. <
„Stopp!“
Da war es schon geschehen. Alyssandra Martens hatte beim Zugießen der Milch auf ihre Cornflakes zu viel Schwung und die Milch schwappte über den Rand der Müslischale. Auch der Ruf ihrer Mutter Johanna, die das Malheur hatte kommen sehen, konnte das nicht verhindern.
„Entschuldige, Mama.“ Lyssas blaue Augen sahen ihre Mutter zerknirscht an.
„Schon gut, Schatz. Kann ja mal passieren.“
Hanna Martens stand auf und ging in die Küche. Sie holte ein feuchtes Schwammtuch und ein Küchenhandtuch und ging zur Essecke des Wohnzimmers zurück.
„Am besten, du gießt die Milch in die Schale, solange ich das Tuch in der Hand habe.“
Lyssa zog einen Flunsch. „Ha-ha!“ Dann griff sie erneut nach der Milchpackung. Vorsichtig kippte sie das Tetra-Pack und diesmal gelang es ihr ohne zu kleckern Milch über ihre Cornflakes zu gießen.
Lächelnd wischte Hanna die Milchflecken weg und legte die Tücher beiseite.
„Hast du eigentlich Hausaufgaben übers Wochenende auf?“
„Nicht direkt“, nuschelte Lyssa mit vollem Mund. Dann riss sie die Augen auf, legte den Löffel hin und schnippte sich selbst auf den Arm. Hanna hatte Lyssa damit abgewöhnt, ständig mit vollem Mund zu sprechen. Wenn es dann doch gelegentlich passierte, merkte es Lyssa und schnippte sich selbst. So wie gerade eben.
Lyssa schluckte ihr Essen herunter. „Wir sollen, wenn wir wollen, ein bisschen Lesen üben. Frau Müller hat gesagt, dass wir bald ein kleines Diktat schreiben und wir können uns den Text vorher durchlesen.“
„Das ist gut, dann machen wir das gleich nach dem Frühstück.“ Hanna legte sich eine Scheibe Käse auf ihr Vollkornbrot. „Du ließt mir laut vor und danach schreiben wir einen Satz als Probediktat.“
„Ach nö!“ Lyssa sah ihre Mutter genervt an.
„Ach ja! Die Geschäfte haben lange geöffnet, Lys. Aber deine Konzentration ist morgens nun mal am besten. Also erst üben, dann einkaufen.“
Lyssa löffelte grummelnd ihre Flakes, während Hanna genüsslich von ihrem Brot abbiss. Gedankenverloren hörte sie der Musik aus dem Radio zu. Es war ein Song aus den späten 1980er Jahren. Hanna fing an, den Rhythmus mit ihrem Fuß mit zu tippen.
„Mama!“
„Was?“ Hanna wurde aus ihren Tagträumen gerissen.
„Du bist völlig im Takt daneben. Hör lieber auf, sonst denken die Nachbarn noch, du hämmerst einen Nagel in die Wand.“
Hanna sah ihre siebenjährige Tochter erstaunt an. Lyssa hatte ihren eigenen Kopf und sagte des Öfteren, was sie gerade dachte. Und wie Kinder nun mal so sind, fehlte hier noch das Fingerspitzengefühl für den richtigen Zeitpunkt, den richtigen Ton oder der richtigen Wortwahl.
„Sehr nett von dir, Alyssandra. Danke!“ Hanna mochte es nicht gerne hören, wenn sie von irgendjemanden auf ihr mangelndes musikalisches Talent hingewiesen wurde.
Schon gar nicht, wenn dieser jemand ihre eigene Tochter war.
Etwas später, als Hanna gerade die Lebensmittel wieder in den Kühlschrank verstaut hatte, klingelte das Telefon. Sie klemmte sich das Mobilteil zwischen Schulter und Ohr und wischte dabei den Esstisch ab.
„Martens!“
„Hallo Nana!“
Hanna wäre fast der Hörer runter gefallen. „Lena?“
„Ich dachte, ich melde mich mal wieder bei dir.“
Helena `Lena´ Kapodistrias war Hannas älteste und beste Freundin. Sie lernten sich im Kindergarten kennen, gingen zusammen zur Schule bis zum Abitur und hatten in vielen Dingen den gleichen Geschmack.
Außer wenn es um Männer ging.
Helena war der Inbegriff der klassischen Schönheit: hochgewachsen, gertenschlank, hohe Wangenknochen in einem schmalen Gesicht, dunkler Teint, ebenmäßige Zähne, dunkle Augen und langes, glattes, nachtschwarzes Haar.
Hanna hingegen war nur 1,62 Meter groß, normal weiblich gebaut mit höchstens fünf Kilo zu viel. Sie hatte ein eher herzförmiges Gesicht, eine eher blasse Hautfarbe, die im Sommer aber schnell Farbe bekam. Braune, leicht gewellte Haare und braune Augen, die hinter einer modischen Brille neugierig die Welt erforschten.
Aber Hanna war nie neidisch oder eifersüchtig auf ihre Freundin. Im Gegenteil, sie war gleichermaßen froh und stolz, dass die zwei Jahre jüngere Helena ihre Freundin war.
„Ich habe in den letzten drei Monaten kaum was von dir gehört, Lena. Wie geht es dir?“
„Einfach nur gut, Nana. Táwo hat mir erzählt, dass du ein paar Mal bei ihm angerufen und nach mir gefragt hast?“
„Natürlich! Du hast dich nicht gemeldet und ich erreiche dich nicht.“ Hanna warf das Küchenhandtuch auf den Tisch und stemmte ihre Faust in die Hüfte. Lyssa kam gerade mit dem Lesebuch und einem Übungsheft in das Wohnzimmer und sah ihre Mutter fragend an. „Táwo hat mir gesagt, dass du ziemlich schwer krank warst. Warum durfte ich nicht zu dir? Lyssa hat ihre Patentante auf ihrem Geburtstag vermisst.“
Das Mädchen winkte hektisch in Richtung Telefon und grinste breit mit funkelnden Augen. Hanna machte eine beruhigende Handbewegung zu ihrer Tochter.
„Ach, Nana. Das ist eine lange Geschichte. Ich hatte eine … Immunschwäche. Aber Jan hat sich aufmerksam um mich gekümmert.“
„Jan? Jannik Cerný? Den du mir damals in der Disco vorgestellt hast?“ Hanna setzte sich hin. Das konnte ein längeres Gespräch werden.
„Genau der. Wir wohnen jetzt zusammen.“
Hanna fiel die Kinnlade herunter. „Wow!“, würgte sie hervor.
Das ging schnell. Viel zu schnell. Sie und Helena hatte sich immer alles erzählt, keine Geheimnisse voreinander gehabt. Zumindest hatte Hanna das bisher geglaubt.
Doch plötzlich verschwand Helena, war drei Monate quasi wie vom Erdboden verschluckt und tauchte dann mit enormen Neuigkeiten wieder auf.
„Nana?“ Helenas Stimme klang beinahe ängstlich. „Bist du noch dran?“
Hanna fasste sich schnell wieder. „Natürlich. Ich bin nur ein bisschen überrascht.“
“Was hältst du davon, wenn du und Lyssa uns morgen besuchen. So gegen 15.00 Uhr. Ich vermisse dich so sehr!“
Hanna war immer noch ein wenig sauer, vermisste ihre Freundin aber auch. „Okay. Wo?“
Sie stand auf, griff sich einen Zettel und einen Stift, schrieb die Adresse von Jannik Cerný auf. „Gibst du mir auch gleich bitte deine neuen Telefonnummern?“ Auch diese schrieb Hanna auf.
„Ach, und bring´ doch auch Monika mit.“
Hanna stutzte. „Meine Mutter?“
„Ja. Du weißt, deine Mutter war für mich immer eine Art Ersatzmutter. Ich möchte sie einfach wiedersehen.“
“Okay. Ich frage sie. Bis morgen dann!“
Grübelnd kappte Hanna die Verbindung, legte das Mobiltelefon zur Seite.
„Übst du jetzt mit mir, Mama?“
Lyssas Stimme riss Hanna aus ihren Gedanken. „Klar doch. Dann mal los.“
Hanna studierte die Namen auf dem Klingeltableau, drückte dann auf `Cerný´.
Sie, Lyssa und Hannas Mutter Monika waren bis U-Bahnhof Mehringdamm gefahren und den Rest des Weges gelaufen. Nun standen sie vor einem ehemaligen Fabrikgebäude, das vor noch gar nicht allzu langer Zeit zu einem modernen Wohnhaus mit mehreren Wohnungen, so genannten Lofts, umgebaut worden war. Die Fassade bestand aus roten Klinkersteinen, die Eingangstür aus dunklem Holz mit Schnitzereien im Jugendstil und Glaseinlagen. Von außen waren drei Stockwerke zu erkennen und auf dem Klingelbrett standen sechs Namen. Offensichtlich waren die Wohnungen extrem großzügig geschnitten, so dass in dem riesigen, über einhundert Jahre alten Gebäude nur sechs Wohnungen waren.
„Wer ist da?“ Helenas Stimme krächzte verfremdet aus dem Klingeltableau.
Einen Moment hatte Hanna das Gefühl, dass sie beobachtet würde. Irritiert sah sie sich um und entdeckte eine kleine Kamera über dem Tableau.
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