Das Wichtigste war, Haagenti eine entsprechende Nachricht zukommen zu lassen. Sie hatte das noch einmal versucht, durch den Tunnel der Gaianer, aber nur Fehlernachrichten erhalten. Im Gegensatz zu den Portalen war der Tunnel nicht gestaucht, was bedeutete, dass ein Signal große Entfernungen zurücklegen musste. Das Signal ihre Kommunikators war zu schwach, um das Wurmloch in seiner vollen Länge zu durchqueren.
Sie tastete nach dem Kommunikator. Er bestand aus silberfarbenen Metalllegierungen und ähnelte einer Armbanduhr der Gaianer. Sie besaß ihn schon sehr lang und achtete sorgfältig darauf, dass er unter einer langärmeligen Bluse oder einem Pullover versteckt war. Er war nie in Sakalla registriert worden und so konnten die Schwadronen sie nicht orten.
Dass sich der Tunnel in der Zoelwüste öffnete, war nach den Änderungen der Spezifikationen der Raumfähre eine weitere Katastrophe. Sie hatte es kaum geschafft, Ruhe zu bewahren, als man dem Team gezeigt hatte, wo das Raumschiff auf Nyx landen würde.
Wahrscheinlich war es Ilu gewesen, der das System der Gaianer damit programmiert hatte. Er war zur Kooperation gezwungen worden und das war seine Art der Sabotage. Schade, dass sie mit ihrer Rache bis zu ihrer Rückkehr nach Nyx warten musste.
Sie würde Haagenti klarmachen müssen, dass es Ilus Fehler war, nicht ihrer. Aber dazu musste sie Kontakt mit ihm aufnehmen und das ging erst nach ihrer Ankunft auf Nyx. Wie lange brauchte er dann, um zu ihr in die Zoelwüste zu kommen? Wie gefährlich war das für ihn? Im Süden Rydinias waren er und seine Leute halbwegs sicher, aber sie würden Gebieten, die vom Hohen Rat kontrolliert wurden, auf ihrem Weg in die Zoelwüste nahekommen.
All diese Fragen und Probleme, die sie umtrieben. Sie musste ihr Vorgehen ausarbeiten, hatte das unbestimmte Gefühl, etwas Wichtiges zu übersehen. Aber es würde ihr einfallen, wenn sie die Details plante.
„... Lissa und Rio die Ausrüstung für biologische Proben, Teresa, Jian und Neo für die geologischen Proben. Ihr habt eure Listen ja bekommen. Wir werden uns am Ende der Expedition alle Proben ansehen und entscheiden, welche wir mitnehmen. Wir haben zwar eine sehr kurze Flugzeit und benötigen weniger Treibstoff, als ein Raumschiff zum Mars. Nichstdestotrotz gibt es Gewichtsbeschränkungen, an die wir uns halten müssen.“
„Also, Neo, keine Hinkelsteine einsammeln“, sagte Rio augenzwinkernd.
Neo grinste. Seine Zähne blitzten aus dem schwarzen Gesicht. „Verdammt, da wollte ich mir die schon in den Vorgarten stellen und nun das!“
Alle lachten und auch sie stimmte, ein wenig verspätet, ein. Sie hielt nichts von Gaianern, denn sie waren schwach.
Und sie war nicht hier, um sich mit ihnen anzufreunden, sondern um nach Nyx zu gelangen.
Nachdem Mac das Briefing für beendet erklärt hatte, war es dunkel. Rio war sofort aufgesprungen, um seine Familie anzurufen. Neo, Teresa und Jian steckten die Köpfe zusammen und besprachen ihre Ausrüstung. Brooklyn und Mac debattierten die Biosuits. Gennady und Anders diskutierten Computerplatinen in der Steuerung der Raumfähre.
Lissa verließ den Raum. Sie hatte Hunger, aber für das Abendessen war es zu früh. An einem Snackautomaten zog sie sich eine Tüte Gummibärchen, stand eine Weile an einem Fenster, von wo aus sie auf die schneebedeckte Taiga starrte, und schlenderte schließlich den Gang hinunter, um den Aufzug zur E-Bahn zu nehmen. Sie dachte über die Ausrüstung nach, die sie mitnehmen mussten. Eine ausreichende Anzahl an Probenkästen, das war klar. Die benötigten Analysegeräte musste sie mit Rio besprechen. In jedem Fall brauchten sie genügend Kühlschrankraum. Und eine Sonde zur Gewässeruntersuchung. Sie würden zwar eine Steinwüste erforschen, aber die Daten des Rovers wiesen auf Wasservorkommen hin.
So vertieft war sie in ihre Überlegungen, dass sie nicht aufpasste, als sie um eine Ecke bog und in jemanden prallte, ihr Blickfeld ausgefüllt von einem weißen Wollpullover, in dem ein sehniger Oberkörper steckte. Verwirrt hob sie den Kopf. Es war Anders, der sie angrinste.
„Entschuldige, ich habe dich nicht gesehen.“
„Nichts passiert.“ Er deutete auf die Packung Gummibärchen. „Das ist reiner Zucker!“
„Klingt, als hättest du schon zu viel Zeit mit Rio verbracht.“
„Stimmt, seine Vorträge über die richtige Ernährung färben ab.“
Lissa lachte und bot ihm die Tüte an, aber er schüttelte den Kopf. „Nein, danke. Kennst du Rio schon lange?“
„Schon einige Jahre. Er war mein Dozent an der Uni.“
„Und die anderen? Hast du die vorher schon einmal getroffen?“
„Nein, bis auf Mac nicht. Er war einer meiner Trainer bei der Astronautenausbildung. Und du?“
„Auch nicht. Das heißt, ich glaube, ich habe mal einen Artikel von Jian gelesen. Aber das war’s dann auch schon.“
Während sie sprachen, waren sie zum Aufzug gegangen und hineingestiegen. „Wohin?“, fragte Anders.
„Zu E-Bahn. Ich will vor den Abendessen nochmal in mein Zimmer.“
„Hm. Vorschlag: Bis zum Abendessen spielen wir eine Runde Billard. Damit du mal gegen jemanden spielst, der das kann.“
Rio hatte also von ihrem Wettkampf am Billardtisch, den er so häufig verlor, erzählt. „Dass Rio das bloß nicht hört. Aber gerne. Und bereite dich darauf vor, zu verlieren.“
Ein leichtes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Um was spielen wir?“
„Wie wäre es mit dem Abendessen? Ich habe Hunger, trotz der Gummibärchen.“
„Einverstanden. Ein Spiel, der Gewinner bekommt das Abendessen in der Kantine seiner Wahl spendiert.“
Es war ein hartes Match, das Lissa nur knapp verlor. Und es dauerte sehr viel länger als die fünfzehn Minuten, die er, so hatte Anders großspurig erklärt, brauchen würde, um sie zu besiegen.
„Du hast nur gewonnen, weil die eine Kugel vorhin so komisch gelaufen ist! Bestimmt bist du an den Tisch gestoßen! Vorsätzlich!“, beschwerte sie sich, nachdem er den schwarzen Spielball versenkt hatte.
„Alles Ausreden. Ich habe gewonnen. Also, mir ist nach Thai. Große Kantine?“
Sie seufzte tief. „Du hast geschummelt und ich werde rausfinden, wie, das glaub mir.“
Anders grinste und deutete eine Verbeugung Richtung Tür an. „Nach dir, meine Liebe.“
Lissa versöhnte sich rasch mit ihrem Schicksal. Anders war ein guter Gesellschafter. Als sie mit Nudeln und im Wok gebratenen Fleisch vor sich in der Kantine saßen, erfuhr sie, dass er in den USA geforscht und keine Familie hatte. Er schob sich ein Stück Fleisch in den Mund. „Und du? Familie? Mann?“
„Nein. Ich habe keine direkte Familie.“ Sie wollte nicht weiter ins Detail gehen. Sobald sie sagte, dass sie bei einer Pflegemutter aufgewachsen war, herrschte normalerweise betroffenes Schweigen. Anni hatte einmal böse gesagt, dass die Leute sofort an schwer erziehbare Kinder oder drogenabhängige Jugendliche dachten, wenn sie das Wort ‚Pflegeeltern‘ hörten. „Und was Männer angeht: Ich bin einfach zuviel unterwegs. Es kommt nicht gut an, wenn man statt des Urlaubs am Meer an seinen Forschungsprojekten arbeitet.“
Es war Ben gewesen, der sie mit einem Flug nach Nizza hatte überraschen wollen, nur, um von ihr gesagt zu bekommen, dass das genau das Wochenende war, an dem sie endlich einen der Reinräume für ihre Experimente nutzen konnte. Er wollte nicht verstehen, warum sie ein Wochenende angetan mit Schutzanzug und Atemmaske ein paar Tagen mit ihm in Nizza vorzog. Sie warf Ben vor, ihre Forschungskarriere nicht ernst zu nehmen. Es war der Anfang vom Ende ihrer Beziehung gewesen.
„Ich kann es nachvollziehen. Bei Frauen kommt es übrigens nicht gut an, wenn man während eines romantischen Dinners laut über Plasmatriebwerke nachdenkt.“
„Das glaube ich unbesehen“, erwiderte sie trocken.
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