Sein Job. Paul sitzt in seiner kleinen Werkstatt im Keller. Seine Frau kümmert sich um die Zwillinge und hat ihm für den Abend frei gegeben, nachdem er von einer wichtigen Arbeit erzählt hat, die am Montag anstehe. Er wolle sich darauf vorbereiten. Für Sansei sind die Belange von Pauls Arbeit immer vorrangig. Wusste sie doch, dass dies ihre Existenz betraf. Finanziell waren ihre Spielräume eng, auch wenn Paul als Staatsbediensteter mehr Geld durch die Erhöhung der Zulage für Kinder ausbezahlt erhielt. Die Steuerklasse ist auch günstiger, leider stiegen aber auch die notwendigen Ausgaben überproportional an. Sie kämen schon zurecht. Später wäre es dann wieder besser. Paul war daher immer auf der Suche nach kleinen Nebenjobs um die Haushaltskasse aufzubessern.
Paul ließ sich bei ihrem Treffen letzte Woche im Gartenlokal von Roger ausführlich erklären, wie er in seiner Firma an eine neue Aufgabe herangehe. Voller Stolz erzählte da Roger vom neuen Superauto, obwohl dies doch top secret sein sollte. Seinem Partner konnte er es ruhig erklären, der verstand meistens eh nur Bahnhof. In diesem Falle irrte sich Roger gewaltig. Die einzelnen Schritte in der Projektarbeit bei einem großen Automobilkonzern unterschieden sich nicht grundsätzlich von dem, was die Grundlage der Arbeit des Unternehmens „The painting men“ sein sollte. Da ist sich Paul vollkommen sicher.
Zu Beginn der Arbeit stand die Erstellung einer Arbeitsskizze im Vordergrund, diese sollte dann auch für Roger Schneider die Grundlage für die weiteren Aktivitäten sein. Pauls Gedanken schossen leicht ins Kraut, doch in diesem Stadium seiner Überlegungen ist eher ein kühler Kopf als ein träumendes Gehirn gefragt. Nun stand seinem Vorhaben nichts mehr im Wege, er hat in Gedanken die einzelnen Schritte schon mehrfach durchgeackert. Bisher fehlte es am richtigen Partner. Aber jetzt. Roger und er, das könnte die ganz große Aktion werden. Das war sein großer Traum, die sogenannte Fachwelt durcheinanderwirbeln das es nur so krachte. Je dreister, desto besser funktionierte sein Plan. Mit Bescheidenheit war nichts zu gewinnen, da brauchte er nicht anzufangen. Wäre schade um die Leinwand, wenn nur ein paar tausend Euro hängen blieben. Nee, nee, nicht mit ihm. Entweder oder, da gab es nun nicht mehr viel zu überlegen. Also ran an den Speck.
In seinem kleinen Atelier im Keller herrscht penible Ordnung. Die große Arbeitsplatte in der Mitte des Raumes wird von Regalen und Schubfächern flankiert. Alles liegt griffbereit an seinen Platz. Der Arbeitstisch ist leergeräumt. Paul lässt sich Zeit, sitzt minutenlang vor der leeren Arbeitsfläche.
Es kribbelt in seinen Händen, eine gewisse Vorstellung hat sich im Kopf bereits herauskristallisiert. Nur nichts übereilen, zuerst ist eine systematischen Eingrenzung des Objektes geboten. Hierfür nutzt er seinen Computer. Mittels einer speziellen Software für Kunsthändler, sichtet Paul die die Auktionskataloge der letzten fünf Jahre. Ihn interessiert vor allem, welche Kunstwerke auf dem Markt gehandelt worden sind. Die Anzahl der in Frage kommenden Auktionshäuser ist begrenzt. Für diese spezielle Kunstrichtung, die er mit einem neuen Werk zu bereichern gedenkt, gibt es wenige aber dafür hochprofessionell arbeitende Anbieter. Zu Beginn seiner Recherche grenzt er das Suchfeld durch entsprechende Filter ein. Auf dem Bildschirm werden nur Positionen ab einem vorgegebenen Schätzpreis oder darüber angezeigt. Dies erleichtert die Arbeit enorm. Minderwertige Massenware wäre reine Zeitverschwendung. Damit hält sich Paul nicht auf.
Mit zwei Fingern haut Paul auf die Tastatur seines Computers. Den Suchbegriff Alte Meister verfeinert er in die Kategorien Altarbilder, Mariendarstellungen und den auch als Vesperbilder bezeichneten Schmerzensdarstellungen, die er unter dem Begriff Pieta zusätzlich eingrenzt. Die Abfrage hat den erwarteten Erfolg. Zahlreiche Ergebnisse spukt das Suchprogramm aus. Er setzt einen neuen Filter. Der Computer liefert umgehend die gewünschten Angaben.
Mit der Software kennt er sich aus. Geeignete Objekte kopiert Paul in eigene Dateien um später genauere Überlegungen anstellen zu können. Aus seiner eigenen kleinen Bibliothek sucht er zur Ergänzung nach geeigneten Fachliteratur. Auch hier hält sich Paul an die ihm eigene Systematik. Er weiß genau, wo er hin greifen muss, um in den Regalen die gewünschten Bilddarstellungen zu finden. Die aufgeschlagenen Kunstdrucke drapiert er nach Themen geordnet in eigens dafür vorgesehene Bereiche des Tisches. Eine besondere Spezies stellen die Altarbilder des Mittelalters dar, die als Triptychon von der Fachwelt bezeichnet werden. Hierbei handelt es sich um ein großes Hauptgemälde sowie auf Seitenflügeln angebrachte weitere Darstellungen. Die Konstruktion ist so gewählt, dass die Flügel zusammengeklappt werden konnten, um bei besonderen Anlässen das Hauptgemälde zu verhüllen. Dies wurde früher in der Karwoche vor Ostern bei Altarbildern, die das Thema der Kreuzigung Jesu darstellten, vollzogen. Durch die Verhüllung des Kreuzes auf den sollten die Gläubigen auf den Leidensweg Christi eingestimmt werden.
Bekannt sind groß dimensionierte Altarbilder, auf deren Flügeln die Leidensgeschichte abgebildet ist. Ein vollständig erhaltenes Flügelbild kam nur selten bei Auktionen zum Aufruf. Meist werden solche Objekte quasi unter der Hand von Verkäufern Museen offeriert, die sich auf christliche Kunst spezialisiert haben. Leider forderten die Wirren der Jahrhunderte hier ihren Tribut, da oft nur Fragmente der Nachwelt erhalten blieben.
Aber gerade dieser Umstand ist es, der die Sache besonders interessant für Paul macht. Das ist die Schwachstelle und die Seltenheit eines solchen Angebotes verspricht das große Geld. Insofern stellte ein Triptychon eine echte Herausforderung dar. Paul spielt mit dem Gedanken, gerade hier anzusetzen. Schnell ist er sicher, gerade das muss es sein. Es reizt ihn etwas schier Unmögliches zu versuchen.
Aus künstlerischer Sicht bedeutet die Umsetzung seiner Idee keine größere Anforderung als ein übliches Altarbild. Vielleicht für sein Vorhaben sogar vorteilhafter. Die Größe des Bildes und die dargestellte Szenerie sollten, für den heutigen Betrachter, alle Attribute eines privaten Auftraggebers aus der Entstehungszeit des Werkes aufweisen. Genau das war sein Ansatz, es durfte nicht zu protzig wirken, sondern eher im schlichten, intimen Raum seinen besonderen Reiz entfalten. Wenn es ihm gelang die verschlossene, hintergründige Botschaft des Bildes dem Betrachter vor Augen zu führen, dann wäre das gewählte kleinere Bildmaß überzeugend, ja folgerichtig. Die Proportionen müssen stimmen, keine Frage. Der goldene Schnitt dem Auge des Betrachters Ruhe geben.
Im Mittelalter waren Kirchen und Adelshäuser die Auftraggeber solcher Kunstwerke, doch reiche Kaufleute und Handelsherren, die etwas Besonderes ihr eigen nennen wollten, verfügten durchaus über die finanziellen Mittel, um anerkannte Künstler zu beauftragen. Das ist einer der Ansatzpunkte auf der sich langsam mit Stichworten füllenden Projektliste. Paul vergisst die Zeit, schon über zwei Stunden sitzt er am Computer und trägt Stichpunkte zusammen. Er ist elektrisiert von seiner Aufgabe.
Das Triptychon ist schon mehr als nur eine fixe Idee. Immer wenn Paul intensiv nachdenkt begibt er sich auf eine gedankliche Wanderschaft. Auch deshalb ist sein Werkstatttisch von allen Seiten zugänglich. Die entscheidende Frage nach dem eigentlichen Inhalt der Darstellung seines Bildes würde noch Stunden intensiven Nachdenkens beanspruchen.
Im zentralen Mittelpunkt des Altarbildes positioniert er die Kreuzabnahme Christi. Die dargestellten Personen wird Paul leicht abgewandt im Profil zeigen, so als seien sie auf dem Rückweg von der Stätte Golgatha. Neben der Gottesmutter Maria könnten zwei höchstens drei Männer, Jünger oder vielleicht auch nur Helfer, das wusste er noch nicht, ausharren. Als weitere Hinzufügung wäre eine verhüllte Frau, in Trauer gefangen, in Tränen aufgelöst, denkbar. Diese unbekannte Person umgab ein dunkles Geheimnis. Um wen handelte es sich hierbei? Ein sich nicht selbsterklärendes Rätsel. Der Betrachter wird zum Nachdenken animiert. Das Bild erhielte durch diesen Kunstgriff eine ungeheure Spannung und Dynamik.
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