Zweites Buch: Fremde Welten
Als Gwenaëls Schiff am nächsten Tag ablegte, stand die Sonne bereits hoch über dem Horizont. Von Hamil-kahar und seinem Schiff sowie von den Nordmännern war nichts mehr zu sehen. Nur ein paar Scherben der billigen Töpferwaren lagen noch an Land herum und gaben scheppernde Töne von sich, wenn jemand bei der eiligen Erledigung seiner Geschäfte dagegen stieß.
Adalis hatte sich auffallend herzlich von Khor verabschiedet, was Gwenaël beim Ablegen schließlich zu einer entsprechenden Bemerkung veranlasste. „Seit wann schätzt Tyrells Weib denn Hänflinge und Kopfmenschen, wo sie doch früher nur richtige Mannsbilder bevorzugt hat.“
„Vielleicht sieht sie die Dinge heute ein wenig anders als früher“, erwiderte Khor. „Vielleicht hat sie erkannt, dass Muskelkraft allein nicht ausreicht.“ Er gab Gwenaël einen Knuff auf den Oberarm.
„Da schau an“, lachte der. „Das sind ja schöne Aussichten. Schlauköpfe sind also zukünftig gefragt. Kraft wird durch Klugheit und Geschicklichkeit ersetzt. Nun denn, wenn dies der Lauf der Welt ist …“ Gwenaël legte Khor den Arm auf die Schulter. „Denk aber daran, dass auch Klugheit und Geschicklichkeit missbraucht werden können. Aber es wird eindeutig Zeit, dass kluge Köpfe wie du die Welt erforschen. Wie oft hat man schon hinter Unerklärlichem das Werk von Göttern oder Dämonen gesehen. Es hilft, wenn man herausfindet, dass es Gesetzmäßigkeiten gibt, denen alles unterworfen ist und dass nicht der Willkür irgendwelcher Götter dahintersteckt.“
„Wie meinst du das?“, fragte Khor. „Woran denkst du dabei?“
„Na“, überlegte Gwenaël kurz, „zum Beispiel die Sonne. Meine Urahnen fürchteten noch jeden Abend, dass sie am nächsten Morgen nicht mehr wiederkehren könnte. Und der Winter war eine schreckliche Zeit für sie. Meinten sie doch, das augenfällige Siechtum der Sonne nur mit Opfergaben und Gebeten aufhalten zu können. Sie lebten in Angst vor dem Ungewissen. Seit meine Vorfahren aber den Großen Steinkreis errichtet haben und deine die Himmelsscheibe schmiedeten, wissen wir, dass die Sonne sowie der Mond zu festen, vorherberechenbaren Zeiten auf- und untergehen. Jahr für Jahr durchlaufen sie dieselben Bahnen. Von Göttern, die willkürlich wirken, also keine Spur. Ich frage mich somit, ob das Meer nicht vielleicht auch ähnlichen Gesetzmäßigkeiten unterliegt.“ Gwenaël schüttelte den Kopf. „Aber ich habe bisher noch keine verlässlichen Regeln entdecken können.“
„Hast du mir aber nicht selbst gesagt, dass bestimmte Küsten im Frühjahr besonders stürmisch sind, während andere eher im Herbst unbefahrbar werden“, widersprach Khor.
„Üblicherweise ist das so“, räumte Gwenaël ein. „Aber ich habe schon Sturm erwartet und ein schlummerndes Meer vorgefunden. Und natürlich genauso umgekehrt. Für mich ist das Meer nach wie vor lebendig. Es ist der Körper einer Göttin, genauso wie auch die Erde der Körper einer Göttin ist.“
„Was ist mit der Luft?“, wollte Khor wissen.
„Ich sag’s ja, ein kluger Bursche.“ Gwenaël deutete eine Kopfnuss an. „Die Luft ist ebenso die Heimstatt einer Göttin, so wie das Feuer. Und wir müssen sie alle vier zufrieden stellen. Auch wenn wir als Seegeborene natürlich vor allem Luft und Wasser huldigen, denen wir am meisten ausgesetzt sind. Doch wir müssen uns vorsehen, dass die Erde nicht eifersüchtig wird und unser Schiff mit Klippen aufschlitzt oder uns auf Sandbänke lockt. Schlimmer als ein eifersüchtiges Weib ist nur noch eine eifersüchtige Göttin. Und das Feuer, du weißt es selbst, will umhegt sein, wie ein neugieriges Kind, das überallhin zu entkommen sucht. Wir lieben es und doch müssen wir uns vorsehen, dass es in seinem Ungestüm nicht alles vernichtet. Lass mich also Wind und Meer danken, weil sie uns bislang so gewogen waren. Bald sind wir in stürmischeren Gewässern. Und ich wäre froh, wenn uns Meer wie Wind auch weiterhin wohlgesinnt blieben.“
Gwenaël goss Apfelmost und Bier in die Wellen. Er warf ein nicht eben kleines Stück eines fast durchsichtigen Gewebes hinterher, das er tags zuvor zu diesem Zweck eingetauscht hatte. Noch nie hatte Khor einen derart feinen Stoff gesehen und überlegte, ob es nicht doch Spinnen waren, die ihn gewebt haben mochten.
„Für mein Weib, das mir lieb und teuer ist“, murmelte Gwenaël, als der Stoff für eine Weile mit dem Wind segelte. Ja, er sah aus, als ob er mit dem Wind tanzte und zum Abschied mit seinen Zipfeln winkte. Als der Stoff das Wasser berührte, schien er sich in ihm aufzulösen, so schnell war er nicht mehr auszumachen. Gwenaël verbrannte je einen Bernstein für den Wind und das Feuer. Und der Erde opferte er eine kleine Schale aus Ton, die er auf der letzten Klippe zerschmetterte, an der sie vorbeisegelten. „Und dass mir das Kind in Coiras Bauch einsieht, dass es ihr Gast und auf sie angewiesen ist und sie nicht auffrisst.“
Gwenaëls Opfergaben und Bitten schienen gehört worden zu sein, denn das Meer blieb freundlich und die Winde waren gewogen. Sogar Sarti meinte irgendwann einmal, dass Schiffsreisen durchaus angenehm sein konnten. Allerdings durfte man ihn nicht an die Überfahrt auf Gwenaëls Insel erinnern, die sie im letzten Herbst hinter sich gebracht hatten. Dann war all seine Zuversicht dahin, sich doch noch an die Seefahrt gewöhnen zu können.
So saßen sie also die Tage über an Deck auf ihren bequemen Schemeln in der Sonne und sprachen über dieses und jenes. Gwenaël berichtete vom Glauben der Seegeborenen, Broc von jenem der Altgläubigen, die mit ihren Geistern und Dämonen der Sonne ihren Rang streitig machten. Zappelnd saß Sarti mit hochrotem Kopf daneben und ließ hervorsprudeln, was er dazu in seinem Gedächtnis gespeichert hatte. Als ob er ihn nachmachen wollte, hockte der Rabe auf Brocs Schulter und wiederholte Sartis wiegendes Auf und Ab des Oberkörpers. Statt mit den Armen zu fuchteln, flatterte der Vogel mit seinen Flügeln und murmelte dabei kaum hörbar irgendwelche unzusammenhängenden Worte. Sarti ärgerte sich darüber und schlug nach Brocs gefiedertem Freund, wenn es ihm zu bunt wurde. Der flog dann laut krähend eine Schleife über das Schiff, um schließlich wieder auf Brocs Schulter zu landen. Der Wolfshund hob jedes Mal missbilligend den Kopf und stierte dem Raben hinterher, als ob er nur darauf wartete, dem Schreier endlich den Garaus machen zu können. Erst wenn wieder Ruhe eingekehrt war, legte er seinen Kopf auf die Pfoten und schlummerte wieder ein.
So vergingen die Tage - einer wie der andere. Die Häfen, die sie anliefen, boten wenig Bemerkenswertes, so dass Khor sie in seiner Erinnerung schon bald durcheinander brachte. Und obwohl sie nach wie vor überall irgendwelche Verwandten Gwenaëls antrafen, schliefen sie seither jede Nacht an Bord. Offenbar waren die verwandtschaftlichen Bande nur noch sehr oberflächlicher Art, denn Gwenaël lehnte jedes Mal dankend ab, falls doch einmal eine Einladung ausgesprochen wurde.
Zunächst hatten sie Uleria angelaufen, eine überaus fruchtbare Insel direkt in Sichtweite des Festlandes. Khor hatte kaum je ein üppigeres Land gesehen. So weit das Auge reichte, grünte auch hier das Getreide und die Häuser waren kunstvoll mit bunten Ornamenten und Zeichen bemalt. Gerne hätte Khor einen Spaziergang unternommen, um das Eiland ein wenig näher zu erkunden. Aber Gwenaël hatte es eilig und ließ schon im Morgengrauen wieder ablegen. Gerade einmal, dass der Wolfshund nach flehentlichem Fiepen von ihm die Erlaubnis bekam, noch schnell einen Baum zu besuchen. Als Khor an Deck kam, die Sonne war eben erst aufgegangen und hatte ihm einen Morgengruß durch das winzige Löchlein in der Schiffswand geschickt, lag der Wolfshund selig schlummernd neben der Luke und Uleria war schon ein Stück entfernt. Das Schiff folgte bereits der Küstenlinie des Festlandes, das mehr und mehr seine Schroffheit verlor und in saftige Weiden überging. Plötzlich brach die Küstenlinie ab, um einem riesigen Mündungstrichter Raum zu geben. Khor staunte, denn er hatte schon etliche Flüsse ins Meer münden sehen, aber dieser hier übertraf sie alle an Breite und Tiefe. Wie eine riesige Seeschlange spie er mit weit aufgerissenem Schlund braunes Wasser ins ewige Blau des Meeres und hinterließ dort lange, trübe Schleier. Zugleich fühlte sich Khor aber auch eingesogen von dem Riesentier, das mit üppig bewachsenen Ufern gefallsüchtig um Aufmerksamkeit buhlte.
Читать дальше