„Oh, man sitzt wie ein König darauf“, strahlte er und auch Broc war überaus beeindruckt von dem herrschaftlichen Bild, das man abgab, sobald man darauf Platz genommen hatte. Als man schließlich aufbrach, um Tyrell zu besuchen, nahm ein jeder von ihnen, einschließlich Gwenaël, seinen Schemel mit, um dessen Tauglichkeit während des bevorstehenden langen Abends zu erproben.
In der frischen Abendluft marschierten die fünf Freunde landeinwärts. Vorbei an dem großen, schmucklosen Vorratshaus und den ärmlichen Hütten, in denen wohl die Handlanger und Hafenarbeiter hausten. Gwenaël hatte noch eine ausgesucht schöne Henkelschüssel mit aufgemalten Kraken mitgenommen, um sie Tyrell und seiner Frau Adalis als Gastgeschenk zu überreichen. Sie war eingewickelt in einem Stück Stoff, so dass sie mit ihren ausladenden Henkeln aussah wie ein verpackter Ochsenkopf. Tyrell stutzte dann auch, als er seine Gäste kommen sah.
Tyrells Haus war gleich das erste in der Ortschaft. Anders als die Häuser, die Khor hier bislang gesehen hatte, war es mit allerlei bunten Zeichen und Symbolen bemalt, die er bereits von den Häusern im Dorf bei den Salzfeldern kannte. Als sie nur noch wenige Schritte entfernt waren, rief Tyrell seine Familie herbei, die, einer nach dem anderen, aus dem Haus gequollen kam. Sechzehn Kinder, erinnerte sich Khor, hatte Tyrell gezeugt. Er versuchte erst gar nicht nachzuzählen. Neben dem nicht eben stattlichen Vater sah seine rothaarige Frau, die das Jüngste auf den Armen hielt, wie eine Riesin aus. Es konnte keinerlei Zweifel daran geben, dass sie es war, die hier das Sagen hatte. Aber, so erinnerte er sich an das Gespräch von gestern Abend, hier auf Oie sind es sowieso die Frauen, die bestimmen, was zu geschehen hat. Den Frauen gehört das Land, hatte Ronal gesagt, und den Männern das Meer.
Die Begrüßung war mehr als herzlich. Erst jetzt hatte Khor verstanden, dass auch Tyrell ein, wenn auch weit entfernter Verwandter von Gwenaël war. Seine Frau Adalis freute sich jedenfalls ganz offensichtlich, den Schwippschwager wieder zu sehen. Sie drückte ihn und strahlte ihn so unverholen an, dass Tyrell und dessen älteste Tochter schließlich die Augen verdrehten. „Was, was, was?“, fuhr Adalis sie an. „Ich freu mich einfach, das Gwenaëlchen wieder zu sehen. Hier gibt’s ja sonst kaum etwas Erfreuliches zu erblicken.“
Khor und Ottel kicherten. „Gwenaëlchen. Wenn das die Mannschaft hört …“
„Ich warne euch!“, fauchte Gwenaël sie an. „Kein Sterbenswörtchen oder ihr beide geht bei nächster Gelegenheit auf hoher See über Bord.“
Ottel wollte schon laut losprusten, als Adalis ihn willkommen hieß. „Oh, welch prächtiger Krieger“, gurrte sie. „Ich bin Adalis und heiße dich herzlich willkommen.“ Sie betonte das Wort herzlich auf eine ganz besondere Art und Weise und reckte Ottel dabei ihren Busen entgegen, so dass er erschrocken einen Schritt rückwärts tat. Flugs hakte sie sich bei ihm unter und führte den verdutzten Kämpen ins Haus. „Wir haben nämlich ein Festmählchen für euch vorbereitet. Es gibt sogar Musik.“
Die Henkelschale mit den aufgemalten Kraken, die Gwenaël mitgebracht hatte, wurde ausgiebig bestaunt und schließlich auf einen besonderen Platz gestellt, so dass jedem, der das Haus betrat, das Prunkstück sogleich ins Auge fallen musste. Man setzte sich um die Feuerstelle und Khor wartete die ganze Zeit gespannt darauf, ob die Gastgeber, wie gestern von deren Verwandten im Dorf bei den Salzfeldern angekündigt, jenes unzivilisierte Benehmen an den Tag legen würden, über das man sich so schadenfroh lustig gemacht hatte. Aber es war nicht wesentlich mehr Schmatzen, Rülpsen und Schlürfen wahrzunehmen als anderswo auch. Eigentlich war es nur Tyrell, der mit seinem vom Festbraten verschmierten Gesicht und den fettglänzenden gierigen Fingern besonders auffiel. Adalis hingegen, die früher einmal Tyrells Magd gewesen war, wie Khor sich erinnerte, legte eine Grazie und Eleganz an den Tag, dass man sie ohne weiteres für eine hochwohlgeborene Frau von der Fürstenburg am Mittelberg halten konnte. Sie umgurrte Gwenaël wie Ottel, hielt ihnen ständig ihr Jüngstes hin, als ob sie ihnen damit eine Arbeitsprobe unterbreiten wolle, und störte jedes Gespräch, indem sie ständig dazwischenfragte, ob Ottel noch etwas Apfelmost oder Gwenaël noch ein wenig vom eingedickten Beerenmus kosten möchte.
Gwenaël hatte es kaum abwarten können, endlich eine Gelegenheit zu finden, um Tyrell zu fragen, ob Hamil-kahar tatsächlich nur mittelprächtige Töpferwaren für ein ganzes Schiff voller Getreide gegeben hatte. Tyrell sah ihn an, als ob Gwenaël plötzlich dem Irrsinn anheim gefallen wäre.
„Na hör mal! Ist das dein Ernst? Das Gelump ist für die Bauern, damit die auch was kriegen. Hamil-kahar zahlt in Silber. Eine erstklassige Geschäftsbeziehung, kann ich dir sagen. In manchem Jahr schafft er es, sechsmal zu uns zu kommen …“
Khor hatte bald genug von dem immergleichen Geschnatter über diesen Verwandten oder jenen Händler, vor dem man sich gegenseitig warnte oder den man wegen seiner Ehrlichkeit rühmte. Der Apfelmost, aber auch die seltsame Musik ließen seine Gedanken immer wieder in die Ferne schweifen. Heute hatte er zum ersten Mal jemanden kennen gelernt, der wirklich ein Fremder war und nicht wieder nur ein über tausend Ecken mit Gwenaël verwandtes Mitglied dessen weit verstreuter Sippe. Hamil-kahar sprach fremdartig, sah fremdartig aus und benahm sich auch so. Khor überkam Fernweh. Wie gerne wollte er endlich diese fremden Welten mit eigenen Augen sehen.
Zu dem Harfenspieler waren inzwischen ein Flötist sowie ein Trommler hinzugekommen, so dass die Gespräche immer lauter wurden, um sich noch gegen die Musik durchsetzen zu können. Plötzlich sprang Adalis auf, reichte Gwenaël und Ottel jeweils ihre Hand und rief begeistert: „Den Kranich! Lasst uns den Kranich tanzen!“
Die Trommel gab den Takt vor. Adalis stellte sich auf, breitete die Arme aus und zuckte im Rhythmus mit den Schultern. Gwenaël stellte sich hinter sie, dann kam Ottel. Tyrell stellte sich hintan, gefolgt von seinen ältesten Kindern. Die Mägde wurden herbeigewinkt und Khor, Sarti und Broc von festen Händen ergriffen und ebenfalls in die Reihe gezogen.
„Hört nur auf die Musik“, rief Adalis, die das Zögern ihrer Gäste bemerkt hatte. „Der Rest kommt dann von ganz allein.“
Und schon ruderten ihre Arme im Takt der Trommeln, als wolle sie versuchen, zu fliegen. Ihre Füße machten kleine Schritte und bald segelte sie wie ein übermütiger Kranich durchs Haus, gefolgt von einer bald sich kräuselnden, bald sich streckenden Schlange von Menschen, welche die seltsamsten Bewegungen vollzogen; ein jeder, wie es ihm gerade in den Sinn kam. Zunächst war es Khor peinlich, irgendwelche Bewegungen zu machen, von denen er nicht wusste, ob sie vielleicht fehl am Platze waren oder gar eine Bedeutung hatten, die er nicht kannte. Kurz: Er hatte einfach Angst, sich lächerlich zu machen. Doch die Musik wurde immer lauter, drängender und mitreißender, so dass er schließlich doch nach Herzenslust mit den Armen fuchtelte, die Beine zappeln ließ und sich am Ende tatsächlich wie ein Kranich fühlte, der über ferne Länder segelte. Wie eine Natter ringelte sich die Menschenschlange. Bald nah beieinander, so dass man sich berührte und die Wärme der anderen Körper spürte, bald aber auch wieder weit auseinander gezogen, um mit gestreckten Armen in der Musik zu schweben.
„So habe ich dich ja noch nie gesehen“, lachte Ottel Khor ins Gesicht, der sich sofort beobachtet und bewertet fühlte. „Nein“, rief Ottel und packte Khors Hand, „tanz einfach weiter und lass dich von der Musik davontragen. Vergiss, wer du sein willst und sei, wer du bist.“
Khor war schweißgebadet als der Kranich in einem eng zusammengepressten Klumpen von Menschen endete, die einander fest umschlungen hielten. Einer wie der andere brach in Gelächter aus und ging langsam wieder an seinen Platz zurück. Vollkommen außer Puste setzte sich Gwenaël ein wenig umständlich auf seinen neuen Schemel.
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