Ethnologen sahen den Grund für die erstaunliche Tatsache, dass grönländische Kinder nicht weinen in der Geborgenheit, die sie erfuhren. Sie wurden sofort nach der Geburt in Tierfelle verpackt und ständig herumgetragen. Erwachsene ganzer Sippen rissen sich darum, die federleichten Bündel zu halten und zu schaukeln.
Die Frau des Doktors hatte davon gelesen.
Sie lächelte nie, aber in ihre Augen kam ein spöttischer Glanz, als sie darüber nachdachte, wie gründlich falsch die gelehrten Damen und Herren mit ihrer Annahme doch lagen. Nicht Geborgenheit liess die Kinder verstummen, sondern Ehrfurcht. Ehrfurcht vor der Ewigkeit, vor der in Polarnähe verhalten vorübertickenden Zeit verschloss die kleinen Münder und machte die Gesichtchen klug und wissend. Weinen, Lachen, laute Worte oder heftige Gefühle und plötzliche Bewegungen hätten das aus Milliarden von Eiskristallen bestehende Versprechen von Ewigkeit bersten lassen können.
Der Laute nähme sein eigenes Spiegelbild in der blauglitzernden Tiefe wahr und stünde gleich darauf, eines unbedachten Geräusches wegen, in tiefem Erschrecken vor einem leeren Rahmen aus trostloser Landschaft, die Zusicherung von der eisigen Konservierung allen Lebens und der Besiegbarkeit des Todes als Scherbenhaufen zu seinen Füssen. Laute Geräusche und die Ewigkeit schlossen einander aus.
Wenn Schneewittchen weinte, schmolzen die Hoffnungen der Schneekönigin darauf, dass die Ewigkeit eines Tages genug Kraft haben würde, um mit kalten Gletscherzungen die ganze Erde zu belecken, dahin wie Schnee an der Sonne. Schneewittchens Mutter hüllte sich in eine dicke Schicht ihrer eigenen Kälte, und das Weinen des Kindes wurde schwächer und vermochte bald gar nicht mehr zu ihr durchzudringen. Sie rührte sich nicht, und das langsame Kriechen ihrer Gedanken über gefrorene Oberflächen tröstete sie.
Der Doktor füllte ein Notizbuch nach dem anderen mit seiner engen Schrift und der ewig gleichen Erkenntnis, dass Kälte konserviert, während Hitze den Zerfall beschleunigt.
Die wöchentlichen Meetings der Gruppe, bei welchen Erfahrungen und Ergebnisse ausgetauscht und diskutiert wurden, liess er mürrisch und in abweisendem Schweigen über sich ergehen, sodass niemand Lust verspürte, ihn nach seiner Meinung zu fragen. Er hatte die Mitarbeit am Projekt über Vitaminversorgung in der Arktis an einem seiner ersten Tage in Grönland aufgegeben. Nun war er ein Fremdkörper in der lebhaft diskutierenden Gruppe.
Als die Männer und Frauen zur Feldforschung aufbrachen hielt er die Tatsache, dass zwei der Inuit Gewehre trugen, für einen Witz. Er rechnete nicht damit, dass sie in dem seltsamen, schweren Dunkelgrau des Februartages Tiere sehen würden. Falls doch, würden sie sie vermutlich bewundernd beobachten, aber sicher nicht erschiessen.
Er täuschte sich. Nach einer Schlittenfahrt, die ihn wimmern liess vor Kälte und nach einem anstrengenden Fussmarsch durch eine unwegsame Stein- und Eiswüste stand er überraschend vor ihnen. Nanuk der Eisbär, liess ein gereiztes Drohgeräusch hören. Einer der Inuit legte das Gewehr an und schoss. Einen Augenblick lang blieb Nanuk stehen, als könne er nicht glauben, was ihm widerfuhr, dann ging er in die Knie und fiel aufs Gesicht. Dass die Lache, die sich unter ihm ausbreitete dunkelrot war, ahnte der Doktor mehr, als dass er es sah.
Mit vereinten Kräften wälzten Forscher und Jäger den Bären auf den Rücken, trennten das kostbare Fell vom Körper und schnitten das noch warme Fleisch in Stücke. Kleine, besonders leckere Bissen wurden roh verzehrt, und die lachenden Münder mit den blutroten Lippen hatten etwas Groteskes. Die Schneekönigin hatte den linken Handschuh ausgezogen. Auch ihre Finger waren blutig.
Der Doktor wandte sich ab von diesen unwirklichen, wie in Zeitlupe ablaufenden Ereignissen. Die plötzliche Einsicht, dass Bewohner der Arktis benötigte Vitamine zu einem grossen Teil aus dem Verzehr eben getöteter, noch blutender Tiere bezogen, liess ihn das vorgegebene Thema endgültig fallen. Er versank gründlich in seinen eigenen, ganz andere Wege gehenden Gedanken. Natürlich hatte er sein Notizbuch dabei und er widmete sich ganz seinen Aufzeichnungen, während die Einzelteile des Bären auf die Hundeschlitten verladen wurden.
Später schnitt die Schneekönigin die inneren Organe von Nanuk in der Küche des Guesthouses mit einem speziellen Gerät in ganz dünne Scheiben, um unter dem Mikroskop nach Schäden zu suchen, die ein Zuviel an Vitamin A angerichtet haben könnte. Der Doktor leerte seinen Kaffee in den Ausguss und warf ein frisch geschmiertes Brötchen in den Abfall. Der Appetit war ihm vergangen.
Nachdenklich musterte ihn die Schneekönigin. Leises Erstaunen lag auf ihrem Gesicht. Sie schwieg. Wohlwollend? Ablehnend? Verächtlich? Der Doktor grübelte endlos. Ihre Verachtung hätte er schlecht ertragen, aber das Gefühl, der Ewigkeit Millimeter für Millimeter näher zu kommen, war ihm wichtiger als die Zugehörigkeit zur Gruppe und die Anerkennung als Forscher.
Nach Schneewittchens Geburt verharrte die Schneekönigin in regloser, vielleicht auch gedankenloser Starre, während der Doktor das Baby mit der Flasche fütterte. Einige Male schon hatte er sich seiner Frau unentschlossen genähert mit der Absicht, ihr prüfend an die Brüste zu fassen. Sie hätten so kurz nach der Geburt prall und voller Muttermilch sein müssen, aber der Doktor fürchtete sich dann doch vor der Empörung über solch einen Übergriff, und so liess er eine nähere Untersuchung bleiben.
„Was erwartest du?“ fragte William mit leisem Hohn. „Etwa eine warme Flüssigkeit wie Muttermilch?“
Der Doktor antwortete seinerseits mit einer Frage: „Was denkst du, nimmt sie wahr, wenn sie in diesen Zustand hinabsinkt?“
William, der ahnte, wie sehr es den Doktor reizte, Experimente an der Schneekönigin durchzuführen, die ihn in seiner Arbeit weiterbringen könnten, liess die Frage des Doktors lachend unbeantwortet. Seiner Meinung nach wäre es nutzlos gewesen, die Grönländerin in allgemeingültige Untersuchungen und Statistiken einfügen zu wollen, funktionierte sie doch so ganz und gar anders als jedes andere menschliche Wesen. Ihr Tod würde mit Sicherheit ein anderer sein als der des Doktors. Und ob ihre Lebensuhr während ihren Abwesenheiten weitertickte, würde nie jemand in Erfahrung bringen. Allerdings beschäftigte die Sache William nur am Rande, während sich der Doktor unentwegt fragte, ob man Lebensenergie einsparen konnte, indem man vorübergehend nichts oder wenig davon verbrauchte.
„Ich liebe sie trotz allem“, erklärte der Doktor unvermittelt.
William sah auf ihn hinunter, strafend und voller Mitleid. Aber bevor der Doktor noch die Gedanken, die ihm durch den Kopf schwirrten, in Worte fassen konnte, erwachte die Schneekönigin aus ihrer Starre, und als das Bewusstsein in ihre Augen zurückkehrte, fielen ihre wissenschaftlichen Diplome von der Wand. Das Glas der Wechselrahmen barst, und als der Doktor sich bückte, um die Splitter aufzuheben, wunderte er sich, wie kalt sie waren.
Einmal mehr hatten die Bewohner der Villa vergessen, Schneewittchen zuzudecken. Es krümmte sich in der Kälte, welche sich in den Zimmern breit machte, zusammen und begann sich nach einer langen Phase des Unbehagens und Haderns wiederum wohl zu fühlen in der Nähe des Todes.
Doch auch diesmal kam Hans Christian, der Schneewittchens Abschiede vorauszuahnen schien rechtzeitig, hob das Kind aus dem Bettchen, wickelte es in eine Decke, drückte es heftig an sich, bis es seufzend Luft holte und sich an ihn kuschelte, um sich aufzuwärmen und sich einmal mehr davon überzeugen zu lassen, dass es leben wollte.
Und Hans Christian erzählte, erzählte von Decken und Kissen und Schneefall und Erbsen unter Matratzen, und Schneewittchen horchte, und wenn es denn schon eine Sprache und ein Gefühl für Zeit gehabt hätte, hätte es sich gewünscht, Hans Christians Geschichten möchten nie ein Ende finden.
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