„Es sieht begabt aus“, flüsterte er schliesslich. Sie löste den Blick von der Zimmerdecke und starrte ihn böse an, und er begriff, dass sie nun auf der Hut war vor möglichen, später auftauchenden Talenten, die grösser sein mochten als ihre eigenen. Wie der Doktor war auch die Schneekönigin Forscherin mit Leib und Seele, und sie duldete keine Überlegenheit anderer.
Der Doktor stand auf und ging auf die Terrasse hinaus, um in der kühlen Nachtluft vor sich hin zu bibbern. Seine Augen brannten, blieben aber trocken, wie immer, wenn er gerne geweint hätte. Und wie stets nach einem ausführlicheren Gespräch mit der Schneekönigin quälte ihn die Überzeugung, eines übers andere Mal das Falsche gesagt zu haben. Er durchquerte weitere Zimmer und Gänge seiner Seele und verirrte sich hoffnungslos in sich selbst.
Der Doktor schlief schon und William war noch nicht zurück aus Prag, als die Schneekönigin aufstand, um sich ihre Tochter anzusehen.
Sie dachte an ihre Wünsche ans Leben, dachte an alles, was hätte sein können. Es war ihr nicht gelungen, die Ängste des Doktors vor dem Reisen zu zerstreuen, aber bis zu diesem Augenblick war sie zuversichtlich gewesen. Irgendwann wären sie zurückgekehrt ins ewige Eis, um weiter zu forschen, nur sie beide in der kühlen Ewigkeit. Ohne das Kind wäre die Ewigkeit erreichbar geblieben.
Sie fasste das Neugeborene nicht an. Es lag so still und atmete so flach, dass sie sich erst nicht sicher war, ob es noch lebte. Die bläulichen Fäustchen lagen auf den geschlossenen Augen und das flaumige, erstaunlicherweise rötliche Haar zog den Blick magisch an, bildete es doch den einzigen Farbfleck im grellweissen Zimmer.
Die Königin brachte einen Schwall Kälte mit zurück ins Ehebett. Diese weckte den Doktor. Er stellte Fragen, viele Fragen, von denen er ahnte, dass sie allesamt falsch waren, und zwischen ihm und seiner Frau baute sich eine Wand aus eisigem Schweigen auf, sodass er bald hilflos verstummte. Wenn er die Augen schloss sah er die bunten, geduckten Häuschen von Ittoquorttoormit und die Eisberge, die geräuschlos und majestätisch in den Scoresby Sund hineintrieben. Er dachte seltsamerweise gerade jetzt daran, dass sich drei Viertel der Masse von Eisbergen unter der Wasseroberfläche befinden, und während er diesem Vorbeitreiben von Eisbergspitzen nachsann, wurde ihm kalt und immer kälter.
Früh am Morgen brühte er eine Tasse Kaffee auf, bevor er sich in sein Labor zurückzog. Die Schneekönigin geisterte durch die Zimmer und zog ihre Kälte wie eine lange Schleppe hinter sich her. Das eisige Schweigen der Nacht war geblieben. Es erübrigte sich, der Schneekönigin Fragen zu stellen und auf Antworten zu warten, und fast war der Doktor erleichtert. Was hätte er fragen sollen?! Jede mögliche Frage war falsch. Und ihre Antworten – hätte er sie hören wollen?
Kurz nach Schneewittchens Geburt stritten sich die Schneekönigin und der Doktor lautstark.
Der Doktor sass tief über ein Buch gebeugt in seinem Lieblingssessel. Er las nicht, sondern hing schweren Gedanken nach, und die plötzlich in schneidendem Ton hingeworfenen Worte der Schneekönigin liessen ihn heftig zusammenfahren. Wie immer hatte sie das Zimmer völlig lautlos betreten, und wie immer tat sie es in einem Moment, in dem man sie nicht erwartete. Sie wolle zurück nach Grönland, eröffnete ihm seine Frau, und das lieber heute als morgen.
Der Doktor rang hilflos die Hände. Ja, auch er wollte zurück nach Grönland, wo die Ewigkeit nahe war, aber nach zwei überstandenen lebensgefährlichen Reisen war er überzeugt, dieselben Strapazen nicht noch einmal auf sich nehmen zu können. Fast täglich dachte er an sein Unterwegssein und wunderte sich, dass er am Leben war, und so nahm er feige Zuflucht zu der Ausrede, er bestehe um Schneewittchens Willen darauf, dass die Familie bleibe im Land des Überflusses, der ausreichenden Vitaminversorgung. Vitamine sind nun mal lebenswichtig, überlebenswichtig, und Schneewittchen sollte es an nichts mangeln.
Er wollte tatsächlich das Beste für Schneewittchen, doch mit der praktischen Umsetzung dieses Besten tat er sich schwer. Wann immer die Königin ihm ihre verzweifelte Kälte entgegenschleuderte, zog er sich verletzt und kleinlaut in sein Labor zurück und überliess Schneewittchen ihren zerstörerischen Launen.
Mit ungläubigem Staunen liess der Doktor immer wieder seine Zeit in Grönland Revue passieren.
Es war Ende Februar gewesen, als er ankam, und die ewige Nacht war seit einem Monat zu Ende; doch die kurzen Grüsse, welche die Sonne gegen Mittag über den Horizont schickte, hatten etwas Unwirkliches. Der Doktor brachte die grellen Strahlen, die auftauchten und gleich wieder verschwanden, nicht mit einem richtigen Tag in Zusammenhang. Zwar litt er als Neuankömmling unsäglich unter der Kälte, gleichzeitig aber fühlte er sich wohltuend konserviert. Selbst seine Verdauung war bei der konsequent fleischlichen Ernährung ohne Ballaststoffe zum Stillstand gekommen. Sparsam und geizig verwertete der Körper fast alles, was ihm zugeführt wurde. Abfallstoffe fielen kaum an, und im Bauch des Doktors tat sich wochenlang nichts. Beobachtend horchte er in sich hinein und füllte Seite um Seite seines Notizbuches mit detaillierten Aufzeichnungen.
Schon im März aber begann sich das Leben schneller abzuspulen, was ihn beunruhigte. Sicherheit holte er sich in der stoischen Ruhe der Schneekönigin, die er lange und unverwandt anstarrte. Dabei war er sich nicht sicher, ob er wünschte, dass sie ihn bemerkte oder ob es ihm lieber war, wenn sie seine Indiskretion ignorierte.
Im Juni, als das Eis aufbrach, die Hundeschlitten versorgt und die Boote hervorgeholt wurden, ahnte der Doktor, dass seine Tage in Grönland gezählt waren. Aber noch war ihm eine Pause vergönnt, noch klammerte er sich an die trügerische Hoffnung auf ewiges Leben.
Anfang November fror die See wieder zu. An ein Fortkommen war nun nicht zu denken, und die dunkle, eiskalte Orientierungslosigkeit, die erzwungene Bewegungslosigkeit behagten dem Doktor. Er horchte in sich hinein und hatte tatsächlich das Gefühl, weniger Leben zu verbrauchen. Im kommenden Frühling aber ging die leichte Unzufriedenheit der Kollegen mit seinen Leistungen in handfeste Kritik über. Sobald das Eis aufbrach und das Meer freigab, sobald der Winterwind nachliess und Flugzeuge starten und landen konnten, würde er Grönland verlassen müssen. Verzweiflung nagte am Doktor und liess ihn spindeldürr werden. Die Aussicht auf eine gefährliche Reise setzte ihm ebenso zu wie das Bedauern darüber, dass er das gute Gefühl von Konserviertheit würde zurücklassen müssen. Nun hoffte er mit aller Macht darauf, wenigstens ein Stück Ewigkeit mitnehmen zu können. Sobald er den Mut dazu aufbrachte, würde er seine Schneekönigin fragen, ob sie ihn als seine Frau nach Europa begleite.
Die Schneekönigin hatte die Hunde bereits eingespannt. Sie wies dem Doktor seinen Platz auf dem Schlitten zu. Seine Beine waren zu lang und fanden nirgendwo Halt, denn das Gefährt war für gedrungene kurzbeinige Inuit-Körper gebaut. Es würde eine anstrengende Fahrt werden.
Das hektische Gebell der Hunde zerriss die Stille des Sonntagmorgens, doch bald lag das Dorf weit zurück und das Keuchen der Hunde und das Knirschen der Kufen auf dem Eis waren die einzigen Geräusche. Sie wollte ihm die himmelblaue Grotte zeigen, die sie erst vor ein paar Tagen entdeckt hatte. Sie würde dem Doktor in ihrer märchenhaften Unergründlichkeit gefallen.
Plötzlich schwenkte der Schlitten in eine festgefrorene Spur im Eis ein. Die Rillen wurden schnell tiefer, und obwohl die Schneekönigin sich dagegen wehrte, folgte der Schlitten nun einem anderen Weg als dem vorgenommenen. Sie erschrak, als sie die Bedeutung dieses Orakels begriff. Sie selbst würde einen ungeplanten Weg zu gehen haben. Eine Weile sträubte sie sich noch, sass stumm und verzweifelt vor dem Doktor auf dem Schlitten, doch dann gestand sie sich eine kühle und überlegene Liebe zu dem hilflosen und lebensuntüchtigen Forscher ein, und als er sie fragte, ob sie mit ihm komme, um zweitausend Kilometer weiter südlich ihr Zelt mit ihm zu teilen, nickte sie stumm.
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