Kurz bevor er mit dem Buch auf den Knien einschlief, begriff er das Prinzip im Umgang mit der Schneekönigin: Vergessen!
Meier beschloss, gegen das Vergessen mit aller Macht anzugehen. Schliesslich ging es um die Lösung eines sich anbahnenden Kriminalfalles und um die Verhinderung von Verbrechen, aber als er am nächsten Morgen seinen Hausarzt aufsuchte, um den tiefen Schnitt, der sich quer über seine Handfläche zog, nähen zu lassen, war er ausserstande zu erklären, wie er zu der Verletzung gekommen war. Der Schnitt hatte den Medianusnerv durchtrennt, und der Arzt versicherte Meier, dass diese Hand mit Sicherheit nie wieder Rapporte schreiben würde.
Sehr zum Missfallen des Arztes murmelte Meier unentwegt vor sich hin, während die Wunde genäht wurde. Der Wachtmeister hatte keine Schmerzen, aber seine Gedanken kehrten, sobald er ruhig auf dem Rücken lag, in die kalte Welt der Rentiere und Schneeköniginnen zurück.
Erst die Frage von Kommissärin Moser, was denn nun in der Villa vorgefallen sei, rief Meier seinen Einsatz vom Vorabend wieder ins Gedächtnis.
„Da war Glas, überall zerbrochenes Glas“, sagte Meier verwirrt und hob als Erklärung seine verbundene Hand.
„Und sie waren klug genug, mitten hinein zu fassen“, bellte Moser gehässig, beschloss aber spontan, darüber hinweg zu sehen, dass Meier nie mehr würde schreiben können. Es würde auch weiterhin genug Einsätze geben, die keine Berechtigung hatten, in die Geschichte einzugehen, sodass sich das Verfassen von Rapporten erübrigte. Dafür wäre dann in jedem Falle Meier zuständig. Moser nickte selbstgefällig. Es blieb also auf dem Polizeiposten alles beim Alten.
„Behalten sie die Villa im Auge“, befahl die Vorgesetzte, und Meier liess sich nach einem strammen „jawohl, Chef!“ die Adresse aufschreiben und in die Brusttasche stecken, obwohl er sie inzwischen besser kannte, als ihm lieb war. Allerdings hätte er nicht zu behaupten gewagt, dass er das Haus im Traum wiederfand.
Die Abende waren lau, lang und ereignislos. Es war früher September geworden.
Wachtmeister Meier setzte sich auf eine Bank und betrachtete die Villa. Verstocktes Schweigen ging von ihr aus. Er nickte kurz ein.
Als er erwachte, waren Haus und Garten lebendig geworden. Schemenhafte Gestalten gingen ein und aus wie in einem Theaterstück ohne Worte. Meier bereitete das Treiben Unbehagen. Türen schlugen, gedämpft waren Schritte zu hören, Gesprächsfetzen. Warum waren die Fenster dunkel, obwohl die Leute im Haus wach waren?
Plötzlich trat eine Gestalt aus der Tür, die Meier immer und überall erkannt hätte. Hans Christian hatte Koffer und Schirm bei sich. Wollte er verreisen? Erwartete er Regen? Nein, er kam schnurstracks auf den Wachtmeister zu und setzte sich in grösstmöglicher Entfernung zu ihm auf die Bank.
Nun sahen sie sich beide die Villa an, als hätten sie sie nie gesehen. Meier klopfte das Herz bis zum Hals. Vermutungen, Befürchtungen, die sich nicht greifen liessen, ängstigten ihn.
„Erzähl mir eine Geschichte“, verlangte er heiser und stellte voller Selbstironie fest, dass er auf Enthüllungen aus Hans Christians Mund hoffte, auf Erklärungen, die die Geschehnisse in der Villa betrafen.
„Hast du ein Schinkenbrot?“ fragte Hans Christian ohne ersichtlichen Zusammenhang.
Meier bedauerte. Vielleicht könnten sie eine Pizza essen gehen. Hans Christian freute sich wie ein Kind. Auf Meiers Armen war Gänsehaut.
Im Gegensatz zum Doktor mochte die Schneekönigin den arktischen Sommer. Die ständige Helligkeit trickste die Körper aus, liess sie glauben, sie würden niemals müde. Die Arbeitstage dehnten sich so mühelos zu Zeitstücken von sechsunddreissig Stunden und mehr und die Forscher kamen in den zwei Sommermonaten mit ihren Projekten weiter als im ganzen langen Winter.
Ausgedehnte Spaziergänge, geselliges Beisammensein und üppiges Essen, wie sie die Grönländer im Sommer gerne genossen, hielt die Königin für Zeitverschwendung. Wurde sie dazu eingeladen, nahm sie zwar teil, erklärte aber jedem, dass ihr der lange arktische Winter lieber sei als der kurze Sommer.
Sanken die Temperaturen wiederum unter dreissig Minusgrade, schloss sie sich in der Dunkelheit und Kälte und im Thema ein, das sie bearbeitete. Nichts verlockte sie nun noch, das Labor zu verlassen. Wenn alle anderen schliefen, steif und hoffnungslos von so viel Kälte und erschöpft von so undurchdringlicher Dunkelheit, zündete sie ihren Primuskocher an, benutzte ihn als Lampe, Heizung und Kaffeekocher und arbeitete. Der Doktor sah von seinem Zimmer aus das Licht im Labor und fühlte sich in der Übereinstimmung ihrer Gedanken geborgen. Auch er liess das Licht brennen, um die ganze lange Nacht durchzuarbeiten.
In der weitläufigen Villa des Doktors war die Schneekönigin so gründlich eingeschlossen, als drifte sie auf einem Eisberg, ohne die Richtung bestimmen zu können. Anfangs versuchte der Doktor noch, seine Frau für alles Schöne im südlicheren Klima zu begeistern, für blühende Bäume, die wenige Monate später üppig mit Früchten behangen waren, für den übermütig wuchernden Garten, der der auserkorene Lieblingsplatz aller Schmetterlinge Basels zu sein schien.
Sie aber empfand diesen unglaublichen Überfluss an Sonne, grünen und bunten Pflanzen, Insekten, Früchten und Vitaminen als Bedrohung. Ihre Forschungen verloren jeden Sinn, und sie empfing den Doktor, der ihr mit selbst gepflückten Blumen und Früchten eine Freude machen wollte, mit Eiseskälte.
Früchte, die tropften, wenn man hineinbiss, waren der Schneekönigin zuwider, und die knalligen Farben der Blumen schmerzten in ihren Augen. Oft stand sie an einem der Fenster im hallenartigen Wohnzimmer und sah hinaus in den Garten, als fürchte sie, Grünes und Buntes kröche unaufhaltsam aufs Haus zu um, was darin lebte, zu ersticken.
Der tiefe Blick in einen ihrer Spiegel gab ihr Halt; ihre kalten Augen sahen ihr daraus entgegen. Auf dem Grund lag die Ruhe von ewigem Eis.
Das Gesicht der Schneekönigin war abweisend wie das ewige Eis. Der Doktor, der so quälend wach war, als habe er literweise Kaffee in sich hineingeschüttet, wagte es erst in den frühen Morgenstunden nach langem, schweigendem Nebeneinander, ihr die Hand auf die Schulter zu legen. Kühle Hand auf kalter Haut.
„Du solltest dir das Kind ansehen“, schlug er zaghaft vor. Es ist winzig und schwach. Vielleicht wird es nicht leben.“
Sie öffnete die Augen. Die pupillenlose Schwärze überraschte ihn einmal mehr. Er verwarf den Eindruck, sie habe eine Sekunde lang erfreut ausgesehen, als absurd.
„Ein Mädchen?“ In ihrer dunklen Stimme war eine Erinnerung an grönländisches Inuktitut, auch wenn sie fliessend Englisch und inzwischen auch gebrochen Deutsch sprach. Inuktitut war eine seltsame und nicht zu erlernende Sprache, deren Klang er mochte.
„Ja!“, sagte er nur.
„Ist es hässlich?“, fragte sie.
„Nun, es ..., es ... sieht ein bisschen aus wie ein zwergenhaftes, rothaariges Schneewittchen, weißt du!?“, versuchte er zu beschönigen. Erst jetzt wunderte er sich selbst über Schneewittchens rote Haare. Der Doktor kam aus einer dunkelhaarigen Familie und die glatten, dicken Haare seiner Frau waren nachtschwarz mit einem Stich ins Blaue. Sie heftete ihren unerbittlich forschenden Blick auf ihn, sodass er klein beigab: „Ja, es ist hässlich.“
Sie schwiegen. Er zog seine Hand zurück und seine Seele kam ihm vor wie ein Haus mit mehr Zimmern, als man in einem Leben kennen lernen kann, mit endlosen Gängen, Treppen und dunkeln Winkeln, aber ohne Fenster und funktionierende Lichtschalter. Eine ganze Weile irrte er umher in den düsteren Kammern seines Ich und suchte nach einer sinnvollen Aufmunterung für seine Frau.
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