Der interne Zoff endete mit dem Kompromiss, weiter in dem magischen Buch zu lesen. Es spukte ohnehin pausenlos im meinem Hinterkopf herum. Und angeblich war ja schon wieder Wochenende!
So einfach ging ich dem Zauber dieser märchenhaften Geschichte auf den Leim. Die Sternelben wussten ganz genau: Mindestens meine halbe Welt, und zwar die wichtigere Hälfte, bestand von Kindesbeinen an aus Fantasie.
„Das Licht kann ohne Schatten nicht sein“, Teil II:
Die Sternelben trugen das Licht zurück in viele Menschenseelen. So gewahrten die Erdbewohner den Unterschied zwischen Gut und Böse. Doch manche Seele blieb schwarz, manche beherbergte sowohl Licht als auch Schatten, andere wiederum waren von reinem Leuchten erfüllt. Den Sternelben aber gefiel es unter Menschen, Tieren und Pflanzen. Besonders die Blumen hatten es ihnen angetan. So verweilten etliche auf der Erde.
Zwischen den Zwillingen herrschte abermals das alte Gleichgewicht. Indes, die Finsternis gab keinen Frieden, sie missbilligte die Sternelben, fühlte sich, obwohl zu Unrecht, neuerlich hintergangen. Da flüsterte ihr der Mond zu, er könne Geschöpfe nach ihrem Geschmack erschaffen und unter die Menschen geleiten.
Bald schon krochen nachts üble Schattenwesen umher. Die meisten Menschen flohen voller Entsetzen vor ihnen und nannten sie fortan Dämonen. Die grausamen Geschöpfe der Nacht lechzten auch nach den Sternelben, konnten jedoch im Licht der Sonne nicht bestehen. Nacht für Nacht flüchteten die Sternelben vor den Dämonen in die hell erleuchteten Häuser guter Menschen. Und bedankten sich mit vielerlei Diensten für den sicheren Unterschlupf.
Die Finsternis grollte über das Versagen ihrer Diener und brütete einen neuen Plan aus. Dann befahl sie dem Dämonfürsten, das elbische Sternsilber zu stehlen. So kam es zum Krieg zwischen Sternelben und Dämonen. Mit magischen Blitzen und Feuern bekämpften sie einander im Zwielicht jahrelang. Unzählige kamen um, bevor der listige Diebstahl des machtvollen Elbenschatzes gelang. Ohne das Sternsilber jedoch waren die letzten Sternelben für alle Zeit an die Erde gebunden.
Auch bei den Menschen zeigte der Krieg schlimme Folgen. Viele erblindeten von den Blitzen oder verloren Hab und Gut durch die Feuer. So erkannten sie die unirdische Macht der Sternelben und fürchteten auch sie. Darüber herrschte große Trauer unter den Sternengeschöpfen. Schließlich verhüllten sie sich als unsichtbare Lichtgestalten. Seither wachen sie im Verborgenen über die Erde.
Ohne groß nachzudenken formulierte sich eine Frage in meinem Kopf. „Muss es nicht Dämonen und Engel heißen?“
„ Du sprichst wahr, so wurden die Elben später von den Menschen genannt. Weißt du um das Wirken der Mönche in früher Zeit?“
„ Ja, die Schriftkundigen unter ihnen stellten Kopien her, so blieb das Wissen über die Jahrhunderte erhalten.“
„ Richtig. Doch nach den großen Kriegen existierte nur mehr eine einzige alte Abschrift über die Geschichte der Elben. Als in späterer Zeit davon eine Übersetzung angefertigt werden sollte, entzifferte der Mönch äußerst mühsam die kaum mehr lesbaren Schriftzeichen. Aus Elben machte er Engel und noch manch anderen Fehler. Bald darauf zerfiel die alte Schriftrolle zu Staub.“
„ Tja, wenn banale kleine Dinge die Welt verändern. Und die Flügel?“
„ Was meinst du, Lilia?“
„ Hatten die Engel-Elben wirklich Flügel?“
„ Nein, sie haben keine.“
Richtig, hätte ich an dieser Stelle ordentlich hingehört, dann wäre postwendend die Frage fällig gewesen: Wieso haben?
Von Natur aus mit genügend Intelligenz und einigem Geschick ausgestattet, nützten mir diese Fähigkeiten im Alltagsgeschäft herzlich wenig. Insbesondere beim Kontakt mit Fremden ging grundsätzlich jede Menge schief. Logisches Denken verabschiedete sich ebenso wie konzentriertes Zuhören oder eine sichere Hand. Umkippende Gläser, das Stammeln halber Sätze und darüber vergessend, was ich wollte, kein einziges Manko wurde im Laufe meines Erwachsenenlebens besser. Es machte mich menschenscheu. Manches Mal wünschte ich, anders geraten zu sein.
„ Wir kennen deine Schwächen und wir kennen deine Stärken.“
„ Meine einzige Stärke ist die Fähigkeit, komplett in einem Buch zu versinken“ , seufzte ich.
„ Wie möchtest du sein, Lilia?“ , fragten sie ganz beiläufig. Eine rein rhetorische Frage, denn sie wussten präzise, wie sie mich haben wollten.
„ Ein gutes Herz…“
„ Du hast ein gutes Herz.“
„ und ein liebenswertes Wesen sein…“
„ Das bist du.“
Prompt keimten Zweifel in mir auf. Und die Frage, wie ich sein wollte, entpuppte sich bei genauerer Betrachtung als ziemlich schwierig. Beispielsweise wusste ich viel, zu viel, über Menschen, die mir begegneten. Ihre Gesichter präsentierten sich mir als offene Bücher ihrer Emotionen, ihres Charakters und so mancher Gedanken. Zwangsläufig empfand ich es als schlimme Belastung, ständig solch Übermaß an ungebetenen Einblicken aufzunehmen. Eine halbe Stunde in der vollen S-Bahn konnte mir ernsthaft den gesamten Tag versauen.
Nach reiflichem Nachdenken gab ich mich kopfschüttelnd geschlagen. „Ich bin nun mal ich!“ Plötzlich schoss durch meinen Kopf die alles entscheidende, hartnäckig abgeblockte Frage: „Was wollen sie von mir?“ Seltsamerweise überfiel mich bleierne Müdigkeit. „Morgen reicht ja wohl auch noch dafür.“
Weit nach Mitternacht wankte ich ins Schlafzimmer.
„ Lilia, lass die Vorhänge offen, damit wir wachen können.“
„ Wieso wachen?“ Langsam entwickelte ich mich zur Quizkönigin der unbeantworteten Fragen.
Ein herrlicher Tag! Dick eingepackt genoss ich die Sonne bei einem ausgiebigen Spaziergang an der Spree. Träge trieben Eisschollen den Fluss hinunter. Nachdenklich ließ ich die Ereignisse der letzten Tage en detail Revue passieren. Mein Gehirn hatte die körperliche Verwandlung, ehrlich betrachtet, weder verdaut noch akzeptiert. Vor dem Badspiegel wütete regelmäßig das Ignorantentum. „Verfluchte Wünsche!“ Verdrossen stürzte ich mich auf das Auge des Wirbelsturms, die unheimlichen „internen“ Gesänge. „Nein, ach nein, der Brocken ist eindeutig zu groß.“ Mit fest umklammerter Gedankenbremse blockte ich den Angriff des riesigen Fragengeschwaders ab. „Plan B, bitte.“ Vielleicht ließen sich nachher im Internet ein paar hilfreiche Informationen über Elben recherchieren. Prompt motzte mein Alter Ego: „Sicher doch, immer hübsch vom Thema ablenken.“ „Gar nicht wahr, in Geschichte bin ich schon immer eine Niete gewesen. Und über Elben sollte ich besser mehr in Erfahrung bringen.“ „Na gut, gewonnen – vorerst.“
Endlich bemerkte ich es. „Wieso ist es dermaßen still in meinem Kopf?“ Anscheinend hörte ich die Geistgäste ausschließlich in meiner Wohnung. Hieß das etwa, wenn ich das magische Buch beseitigte, würde ich in meinem alten Leben aufwachen? Wollte ich das? Kläglich leise Ja-Rufe scheiterten gnadenlos am Nein-Orchester aus der Neugierzone.
Zurück daheim, suchte ich Literatur über Elben. Neben zahllosen, erwartbaren Treffern bei Sagen, Märchen und Fantasy existierten kaum Einträge zu wissenschaftlichen Abhandlungen.
Die wenigen Sachbücher wollte ich gerade bestellen, als sie Einspruch erhoben.
„ Dort wirst du keine Weisheiten finden.“
„ Was erwartet ihr von mir?“ Das hatte ich in diesem Augenblick doch ganz bestimmt nicht wirklich gefragt, oder? Und ob!
Ihr sprachloses Singen klang beinahe schüchtern. Ich wartete. Die Zeit schlich laut meinem Bauchgefühl in Zeitlupe dahin, während mein realer Magen unbekümmert Übelkeit produzierte.
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