Sie konnte und wollte ihm nicht verzeihen.
„Es tut mir leid.“ Leyla spürte die Hand ihrer Schwester an ihrer Schulter.
Instinktiv nahm sie Esin in die Arme und weinte hemmungslos.
„Machen wir den Baum endlich fertig? Ich mag nicht mehr basteln und im Fernsehen läuft nur was über Jesus.“, sagte Elias der sich leise in die Küche geschlichen hatte.
„Ach so? Na dann machen wir den Baum fertig. Hol schon mal die Kugeln raus.“, schickte Esin Elias ins Wohnzimmer und sah in Leylas verweinte Augen. Jetzt konnte sie sich selber nicht erklären, wie sie auf die Idee kam, mit ihren Eltern Frieden schließen zu können. Alleine schon Elias Bemerkung hätte ihren Vater auf die Palme getrieben. Es tat ihr Leid, ihre Schwester an die schlimme Zeit erinnert zu haben.
Wie wenn Leyla ihre Gedanken lesen konnte, sagte sie auf türkisch: „Schon gut. Ich habe dich lieb.“ Das erste Mal, seit Ewigkeiten sprach sie paar Worte in ihrer Muttersprache aus und bereute es in Gedanken ihren Sohn nicht zweisprachig erzogen zu haben.
Nur einen Tag nach Weihnachten wurde Daniel in eine Spezialklinik verlegt, wo man sich seiner Epilepsie annehmen wollte.
Leyla brauchte jedes mal fast eine Stunde, bis sie in der Klinik war. Am Silvestertag beschloss sie nicht hinzufahren. Sie musste wie jedes Jahr Inventur machen und war erleichtert, dass auch Esin nichts vorhatte.
„Wollen wir Anna und Sara einladen? Annas Freund hat Nachtschicht und Sara hat sich von Chris getrennt.“
„Wieso?“
„Weil er sie betrügt, seit Monaten angeblich.“, sagte Esin und zog wie meistens, wenn ihr was unangenehm war ihre Augenbrauen hoch. „Du brauchst nicht sagen, was du jetzt denkst.“
„Doch. Im Grunde kannst du dir ausmalen wie sich Roberts Frau fühlt.“
„Das ist was anderes. Chris und Anna waren glücklich. Die Ehe von Robert ist schon längst zerrüttet.“
„Ach ja? Hast du seine Frau dazu befragt? Vielleicht denkt sie auch, dass sie eine glückliche Ehe führt. Bitte, sie sind zusammen in Kitzbühel. Er, sie und dessen Tochter. Die perfekte Familie feiert zusammen ins neue Jahr.“
„Schon gut, ich habe ja Schluss gemacht. Also, was ist? Machen wir einen Mädelsabend?“, lenkte Esin ab.
„Klar.“, sagte Leyla mit gespielter Begeisterung, was ihrer Schwester nicht entging.
„Ach komm. Es kann nur noch besser werden. Silvester alleine sein ist auch nicht die Lösung.“
„Ich weiß, aber ich bin so müde. Am liebsten würde ich mich in den vier Wänden einsperren, um Tagelang schlafen zu können.“
„Ich weiß. Ich weiß...“, nahm Esin ihre Schwester in die Arme.
Trotz enormer Müdigkeit war Leyla am Silvesterabend froh mit den Mädels auf´s neue Jahr anstoßen zu können. Ihre Traurigkeit betäubte sie mit Alkohol und bereute es am nächsten Tag zutiefst.
„Bist du böse, wenn ich nicht komme?“, fragte sie ihren Mann am Telefon.
„Bleib zu Hause. Ich hab´ Kopfweh ohne Ende.“, jammerte Daniel.
Auch am nächsten Tag beklagte er sein schlechtes Wohlbefinden. Nicht mal die Inventurzahlen interessierten ihn, was Leyla Angst machte. Ihr Mann war ein Arbeitstier. Schon vor seiner Selbständigkeit hat sich der gelernte Kaufmann schnell zum Filialleiter hochgearbeitet. Keinen einzigen Tag hat er gefällt oder sich verspätet.
„Daniel, du musst mit mir reden!“, sagte sie laut. „Herr Robak war am Silvestertag da, wegen der Vertragsverlängerung. Seine Tochter will´s wirklich übernehmen.“
„Was?!!“, richtete sich Daniel auf.
„Ja. Sie will es übernehmen. Er kommt am zehnten mit ihr in den Laden.“
„Er will uns nur in die Enge treiben.“
„Nein! Er hat mir gesagt, dass sich seine Pläne geändert haben. Er will den Laden seiner Tochter geben. Außerdem denke ich nicht mal im Traum daran einen Tausender mehr zu zahlen. Tausend Euro!! Er spinnt doch!“
„Tausender mehr Umsatz schaffen wir allemal.“
„Nein Daniel. Das schaffen wir nicht!!“
„Doch! Wir müssen Moni entlassen und vielleicht doch bis acht öffnen. Und Samstag auch länger.“
„Sag doch gleich, dass wir uns zum Tode arbeiten sollen.“
„Nur noch acht Jahre Leyla. Dann ist die Wohnung abbezahlt.“
„Deswegen müssen wir doch nicht den Laden behalten. Wir können woanders was aufmachen oder uns einen normalen Job suchen. Andere schaffen es doch auch so.“
„Ach so? Wer den?“
„Na Paul und Lydia zum Beispiel.“
„Weil Pauls Vater die halbe Baustelle finanziert hat und jeden Monat dazu schießt. Ich habe keinen Vater mehr und du....“
„Na sprich schon aus, was du denkst.“, sagte Leyla zornig.
Daniel ließ sich nicht provozieren und fuhr fort. „Außerdem, wo kriege ich den einen Job mit dieser Krankheit bitte?“
„Die sagen doch, dass du mit den richtigen Medikamenten keine Anfälle mehr haben wirst.“
„Und dennoch. Nicht mal Autofahren darf ich jetzt.“
„Wieso?“
„Weil es so ist. Erst wenn ich wieder Zeitlang anfallsfrei bin, kann ich mich ans Steuer setzten.“
„Okay.“
„Was okay.? Ist doch alles scheiße!“
„Hör auf. Ich kann einfach nicht mehr.“
„Ich weiß. Hör mir zu. Ich denke, dass ich nächste Woche entlassen werde, dann unterschreiben wir den Vertrag. Versprich mir, dass du ohne mich nichts unbedachtes machst.“
„Hörst du mir nicht zu. Es gibt keinen Vertrag! Seine Tochter übernimmt den Laden.“
„Warten wir mal ab.“, sagte Daniel ruhig.
Leyla versprach ihm zu warten, war jedoch von seiner Idee den Laden zu behalten nicht begeistert.
„Ich fühle mich wie ausgespuckt.“, jammerte sie sogar vor Moni, als sie wiedermal nach Ladenschluss länger bleiben musste. Sie hat abgenommen, was vor allem Alexis nicht entging.
„Bald haben sie überhaupt keine Brüste mehr.“, sagte ihre Nachbarin schonungslos. „Aber sehr schöne Jacke haben sie an. Sehr schön.“ Wie immer kommentierte Frau Kessler das Outfit ihres Gegenübers. Ihre Meinung war immer ehrlich. Nicht nur einmal hat Leyla lachen müssen, wenn Alexis ihre füllige Freundin zur Sau machte, wegen ihres Modegeschmacks.
„Danke.“, sagte Leyla und glaubte ihren Augen nicht, als sie die Aufschrift auf Alexis ihrem Pullover sah. Ein „Sexy Girl“ Aufdruck in Gold zierte ihre doch nicht zu kleine Oberweite.
„Ist ihr Mann immer noch im Krankenhaus?“
„Ich hole ihn heute nach Hause.“
„Das ist gut. Dann geht’s Ihnen auch besser. Wissen sie, ich kenne das. Als mein Alter damals so krank war, habe ich es auch nicht so leicht gehabt. Drei Jahre habe ich die Kneipe alleine geschmissen. Da hätten sie mich sehen müssen. Haut und Knochen! Nicht so dünn wie Esin, aber fast. Ja fast. Habe ich ihnen schon mal die Fotos gezeigt?“
„Nein.“
„Wenn ihr Mann wieder da ist, kommen sie mal zum Kaffee trinken.“
„Ja. Aber jetzt muss ich gehen.“, sagte Leyla freundlich und schmunzelte während der Autofahrt über die Art ihrer Nachbarin.
Daniel wartete schon ungeduldig, sah aber blass und ungepflegt aus.
Auf dem nach Hause Weg beklagte er seine Situation.
„So eine Kacke, ich bekomme zwar keine Anfälle, aber zitternde Hände, jede menge Kopfweh und, und, und....“, sagte er mit Verbitterung in der Stimme.
Am Abend, als sich Leyla zu ihrem Mann ins Bett legte, ließ sie sich ihre Angst einzuschlafen nicht anmerken. Die ganze Zeit musste sie daran denken, dass er wieder einen Anfall bekommen könnte.
Irgendwann gegen drei Uhr früh schlief sie endlich ein. Jede nur so kleine Bewegung ihres Mannes nahm sie unterbewusst wahr und fühlte sich am nächsten Morgen, wie wenn sie die Nacht durchgemacht hätte.
„Ich will den Laden um jeden Preis behalten.“, stellte Daniel beim Frühstück klar. Seit drei Tagen war es das einzige Thema zwischen dem Ehepaar.
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