„Oh was für ein fieser Kerl! Oh was für ein gemeiner Einer!“
Er durfte Max nicht finden! Weglaufen war unmöglich. Der Kerl versperrte den Ausgang. Max lehnte sich so weit wie möglich zurück, so dass er durch die Nischenverkleidung ganz verdeckt wurde. Von der Eingangstür aus würde man nur auf die Silhouette eines aufgerissenen Tomatenmundes blicken. Allerdings konnte Max so den Kerl auch nicht mehr sehen. Max suchte vergebens nach einer reflektierenden Oberfläche, auf der sich der Eingangsbereich vielleicht spiegeln würde. Ihm blieb nichts anderes übrig als zu warten. Er zwang sich dazu, langsam bis zehn zu zählen. Sein Herz pochte wie wild in seinem Hals und seine Hände waren mit kaltem Schweiß überzogen. Alles in ihm war bis auf das Äußerste angespannt. Hatte der Kerl sich umgesehen und war wieder gegangen als er Max nicht fand? Hatte er sich vielleicht gesetzt und wartete? Dann müsste doch die Zwiebel oder der Lauch zu ihm, um die Bestellung aufzunehmen. Aber die beiden waren immer noch hinter der Theke und machten keine Anstalten, sich von dort fortzubewegen. Vielleicht war der Kerl ja wirklich gegangen. Jetzt bloß keinen Fehler machen. Er mahnte sich zur Ruhe. Wieder zwang er sich bis zehn zu zählen. Lauch und Zwiebel waren immer noch hinter der Theke. Er hielt es nicht länger aus. Wie in Zeitlupe kam er mit dem Kopf nach vorne, bis er zur Tür sehen konnte. Der Platz, an dem der andere eben noch gestanden hatte, war leer. Hatte Max ihn vorhin überhaupt gesehen oder hatten ihm seine Nerven einen bösen Streich gespielt?
„Hallo“, sagte eine Stimme direkt vor ihm. Er fuhr herum und blickte in ein Gesicht mit altmodischer Hornbrille. Ohne Zweifel das Gesicht aus dem Wohnzimmer seiner unbekannten Bekanntschaft. Wie kam er so plötzlich hierher? Um dorthin zu gelangen hätte er doch an Max vorbeigehen müssen! Wieso hatte er ihn nicht bemerkt? Max blieb keine Zeit für weitere Überlegungen. Sein Körper wollte nicht warten, bis sein Kopf zu Ende gedacht hatte. Das hätte erfahrungsgemäß ewig gedauert und mit Sicherheit schmerzhafte Folgen gehabt. So gut kannte ihn sein Körper schon. Deshalb sprang sein Rumpf reflexartig auf und stieß mit aller Kraft seinem Gegenüber den Tisch gegen die Beine, um wieder etwas Abstand zu ihm zu bekommen. Halb aus Schmerz und halb aus Überraschung heulte der Fremde kurz auf. Der Tomatensaft war umgefallen und hatte sich über dessen Hose ergossen. „Jetzt schau dir das an! Ich blute!“, stieß er hervor. Max wollte weglaufen, doch er war in der Aufregung zur falschen Seite aufgesprungen. Anstatt in Richtung Theke und damit in Richtung Ausgang war er einfach kopflos weiter nach hinten in den Raum gehastet, der nun eine Sackgasse in seinem Rücken bildete. Vor ihm formte der immer noch fassungslos auf das Rot seiner Hose starrende Fremde ein unüberwindliches Hindernis. Hätte ihn sein Körper besser mal weiterdenken lassen statt kopflos zu handeln. Nun saß er in der Falle. Gleich würde sein Gegenüber sich von dem Schreck erholt haben. Gleich würde er merken, dass das Rot nur gesunder Tomatensaft war, der lediglich für die Hose eine tödliche Gefahr darstellte.
Die Flecken würden niemals wieder rausgehen.
Die ehemals weiße Hose war am Ende ihrer Tage angelangt.
Der Fremde blickte zu ihm auf und Max glaubte, einen Killerinstinkt zu erkennen, der den Terminator dagegen wie einen barmherzigen Samariter erscheinen lies.
„Wie hieß der Kerl eigentlich?“, ging es in seinem Kopf los.
„Wer?“
„Na der Terminator.“
„Ach der. Der hieß doch T… T… T was-weiß-ich. Ich kann mir einfach keine Namen merken.“
„Nein, ich meine den Schauspieler.“
„Ach der ! Das war doch dieser… dieser… dieser Bodybuilder.“
„Genau der!“
„Der… der… der zuletzt einen Gouverneur gespielt hat.“
„Genau!“
‚ SCHWARZENEGGER!’ , schrie Max in seinen Kopf. ‚UND KÖNNTEN WIR UNS JETZT WIEDER AUF DIE RETTUNG UNSERES ARSCHES KONZENTRIEREN? ICH KÖNNTE HIER ETWAS UNTERSTÜTZUNG GEBRAUCHEN!’
„Ach, reg dich ab. So toll ist der jetzt auch wieder nicht.“
„Wer? Schwarzenegger?“
„Nein, unser Arsch.“
„Ach der .“
Max wusste für einen Moment nicht, was ihn mehr aufbrachte: die Angst vor dem Fremden oder die Wut über die Ignoranz der Situation in seinem Kopf. Die Wut siegte. Doch er konnte sich schlecht selbst verprügeln. Also warum sollte dann nicht wenigstens jemand anderes herhalten? Sein Gegenüber hatte es auf ihn abgesehen. Warum sollte er da seine Haut nicht so teuer wie möglich verkaufen? Er könnte ihm wenigstens noch ein bisschen wehtun bevor er unterging. Einer musste schließlich für seinen Kopf den Kopf herhalten. Und hieß es nicht immer Angriff sei die beste Verteidigung? In seinem Kopf wurde unterdessen zielgerichteter diskutiert.
„Eine Waffe wäre nicht schlecht. Doch woher nehmen? An diesem Ort? Zu dieser Stunde?“
„Das ist doch auch aus diesem Film. Der mit dem Flugzeug. Die… die… die… unglaublich, was man alles so vergisst.“
„Film, gutes Stichwort! Im Film hätte der böse Bube ein Messer gezogen und sein zunächst wehrloses Opfer würde daraufhin geistesgegenwärtig eine herumstehende Flasche zerbrechen, um sich mit deren messerscharfen Kanten zu verteidigen. Also, lasst uns eine Flasche suchen!“
„Das dürfte nicht allzu schwer sein. Laufen ja genug davon herum…“
„Schnauze, Scherzkeks!“
„Nur gut, dass wir soviel Fern sehen. Da behaupte noch einer, das würde verblöden!“
„Um wieder auf die Flasche zurückzukommen…“
„Folget der Flasche!“
„Jehova! Jehova!“
„Jeder nur ein Kreuz!“
„NOCH EIN WORT UND IHR KOMMT DORTHIN, WO ES AM DUNKELSTEN IST!“, schrie die Chefstimme.
„Hier unten ist kein Platz mehr!“, protestierte es aus ungewohnter Tiefe.
„MAX, SUCH EINE FLASCHE!“
Max sah sich hastig um. Auf dem Nachbartisch standen noch die Reste einer Mahlzeit, deren überwiegender Teil das Lokal mit ihrem neuen Besitzer schon längst verlassen hatte. ‚Schlampiges Personal. Das gibt Punktabzug in der B-Note. Auch wenn sie nur lausige Billigjobs hier haben. So kriegen die nie einen Stern.’ Keine Flasche zu sehen. Nur ein Pappbecher, der bis vor Kurzem noch einen halben Liter Milch in seinem Innern beherbergt hatte. Max glaubte nicht, dass dessen Bruchkanten sein Gegenüber in irgendeiner Weise beeindrucken würden. Da soll noch einmal einer sagen, Milch wäre gut für die Gesundheit! Für seine Gesundheit wäre eine Flasche Bier jetzt eindeutig besser. Aber bei seinem Glück wäre das bestimmt eine dieser neumodischen PET-Flaschen. Wie hieß es so schön in der Werbung? Unkaputtbar! Es lebe der Fortschritt. Und die Kerze auf dem Tisch, die Max so unpassend wie eine Rose in einem Trümmerfeld vorkam und wohl ein Hauch Atmosphäre in diesen Raum bringen sollte, war auch nicht wirklich als Waffe zu gebrauchen. Es sei denn, sein Gegenüber hätte eine ausgeprägte Wachsallergie. Die Wahrscheinlichkeit stufte Max allerdings als recht gering ein.
„Vielleicht könnten wir dem Anderen mit voller Wucht die leere Pappschachtel entgegenschleudern und hoffen, dass ihn das wenigstens in totale Verwirrung stürzt?“
„Wie bitte?!?“
„War nur so ne Idee…“
Diese blöden Vegetarier! Von wegen gesund! Diese Ernährung war für den Verteidigungsfall völlig ungeeignet und damit höchsten Grades ungesund! Welch Verletzungspotential dagegen doch eine als Wurfgeschoss genutzte gut durchgebratene Frikadelle hätte! Ein Eisbein in den falschen Händen könnte eine kosmische Katastrophe auslösen! Und schon allein der Anblick von triefenden Fritten aus altem Fett würde den gesündesten Körper praktisch innerhalb von Sekunden kollabieren lassen.
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