»Da!«, flüsterte Heinz. »Hast du das gehört? Da schreit doch jemand! Na klar, da ruft einer um Hilfe!«
Ich hatte es gehört. Und dank der Ortskenntnisse, die ich von Karl Bollmann hatte, wusste ich auch, wo derjenige war, der da rief. Ich startete den Motor und gab Vollgas. Heinz schrie vor Schreck auf, als ich genau auf die Schilfwand zuhielt, die sich wie eine Mauer vor uns erhob. Noch bevor er etwas dagegen unternehmen konnte, teilte DODI die grüne Wand und preschte hinein in ein schmales Fließ, einen der Gräben, die ich noch von meinen früheren Exkursionen mit Karl und seiner REIHER her kannte. Ich nahm Fahrt aus dem Boot und manövrierte es mit traumwandlerischer Sicherheit durch die Dunkelheit.
»Scheinwerfer!«, rief ich, langte in eine Kiste und drückte Heinz die riesige Taschenlampe in die Hand. Heinz reagierte sofort und sprang aus der Plicht. Nur von draußen konnte er so mit der Lampe hantieren, das mich ihr Widerschein durch die Fenstergläser nicht blendete. Der starke Handscheinwerfer erleuchtete den schmalen Graben und wir sahen Gespenstisches vor uns. Aus dem Wasser des Grabens ragte ein Kopf, und ein Arm winkte uns kraftlos zu. Die Strömung drückte uns unaufhaltsam darauf zu, und ich ließ die Maschine rückwärtsgehen.
»Schnell, Heinz! Heckanker in die Modderbank setzen, nicht in den Graben!«
Auch jetzt reagierte Heinz genau richtig. Im Nu hatte er den Heckanker klar und feuerte ihn in den Schilfwald. Leine auf die Klampe und DODI stand auf der Stelle. Ich hatte den Motor gestoppt, nahm die Lampe und stürzte nach vorn.
»Zwei Meter nachlassen, Heinz! Und dann komm nach vorn!«
Ich griff die Festmacherleine, legte mich aufs Vordeck und beugte mich so tief ich konnte herunter. Heinz packte mich am Hosenbund um mir den nötigen Halt zu geben. Von dem Unglücklichen, der dort im Grabenschlick steckte, schaute inzwischen nur noch das Gesicht heraus und die Wellen begannen bereits, Mund und Nase zu überspülen. Ich schaffte es irgendwie, eine Leinenschlinge unter seine Arme zu bekommen.
»Hol tief Luft! Es wird weh tun!«, brüllte ich, warf die Leine um die Vorschiffsklampe und jagte zurück in die Plicht. Motor an und mit Gefühl zurück. Ich hatte keine Wahl. Der Schlick hielt den Verunglückten mit Macht fest und selbst zusammen hätten wir nicht die Kraft gehabt, ihn aus seiner misslichen Lage zu befreien. Aber fünfundzwanzig Pferdestärken sollten hierfür ausreichen. Irgendwann machte DODI einen Satz zurück und ich hatte erreicht, was ich wollte. Blubbernd und spuckend war der Mann freigekommen und wir fischten ihn aus dem Graben. Wären wir nur fünf Minuten später gekommen, hätte er keine Chance mehr gehabt.«
Das Rätsel im Goldenen Anker
Einen Moment herrschte atemloses Schweigen in der Schankstube. Der Wirt stand wortlos auf und ging hinter seinen Tresen um neue Gläser zu füllen.
»Oooooh! Mann! Da hast du jetzt aber ein bisschen dicke aufgetragen. Das ist doch nun wirklich Seemannsgarn hoch drei«, meinte Kuddel und verzog unwirsch das Gesicht.
»Dem Kerl kann man doch nix mehr glauben nach dieser Gespensterstory«, pflichtete Stegwart Wolfgang ihm bei, und auch Kalli sah mich kopfschüttelnd an.
»Sei froh, dass die Frauensleute nicht dabei waren. Wir versprechen dir auch, dass wir es keinem weitererzählen, Lügenbold!«
»Mooooment mal!« wurde jetzt Heinz laut. »Freunde! So nicht! Keiner sagt Lügenbold zu Claus! Ich war schließlich dabei! Und ich sage euch: Genau so hat es sich abgespielt!«
»Ach nee! Und wie ist der Kerl dahin gekommen? Vom Himmel gefallen?«
»Quatsch! Während Claus den Mann, der wohl schon Stunden im Wasser gestanden haben musste, betreute, habe ich das Boot tiefer in den Graben gesteuert. Gar nicht weit entfernt haben wir dann seinen Kahn gefunden, die langen Stangen der Sperrlage hatten sich im Schilf verfangen. Der wollte da fischen und ist dabei über Bord gegangen.«
»Ach, hör doch auf!«, schimpfte Kurt. »Dass du so was auch noch unterstützt, Heinz! Ich bin entsetzt!«
»Ssstimmt aber«, sagte der Wirt trocken und stellte die frisch gefüllten Gläser auf den Tisch. Alle Köpfe fuhren herum und aller Augen richteten sich argwöhnisch auf den Herrn der vollen Gläser.
»Woher wollen Sie denn das wissen?«, entfuhr es Kalli und seine Stimme klang ziemlich böse. Der Wirt lächelte und fing an, sein Hemd aufzuknöpfen. Stolz präsentierte er den Freunden am Tisch die quer über seiner Brust verlaufende Narbe, die sich bis unter seine Arme zog.
»Die ssstammt vonne Festmacherleine und den fünfundzwanzich Pferdessstärken vonne DODI«, sagte er ruhig. Dann holte er ein Tablett mit Gläsern und stellte jedem einen doppelten Klaren hin. »Ich jedenfalls frrreue mich, den beiden Kerls noch einmal zu begechnen, denen ich mein Leben zu verdanken hab. Die Beiden haben gut für mich gesorcht, in jener Nacht. Sogar mien lütt Ruderboot hamse im Schlepp gehabt, als se mich im Ssstockdüstern nach Sandssstedt gebrrracht ham. Ich war ja nicht mehr ansssprrrechbar, damals! Midde Flut war ich über die Grrrabenkante geflutscht un wollte nu den Aalen an die Flossen. Aber wie das so is, eine unbedachte Bewegung, ich schoss in’n Bach und dat Boot trrrieb wech. Ich versuchte die Füße ut‘n Modder wedder rut to kregen, sank aber man bloots noch tiefer innen Matsch ein! Wär der alte Mann nich gewesen, ich hätt mir vor Schiss inne Büx gemacht!«
»Moment mal, welcher alte Mann?«
»Naja, so’n oller Knacker eben! So in Fischerklamotten, mit ’ner Pfeife und ’nem Südwester auf’m Kopp. Der saß die ganze Zeit bei mir auffe Schlickkante und hat mir gesagt, dass ich dat hier wohl überleben würde. Aber ich müsst noch wat warten, meinte er. Sogar als dat düster wurde, und dat Wasser immer höher ssstieg, war der noch eine Weile da. Un denn sagt der Heini mir, er müsse gehen, und dass er mir aber ein Boot schicken würde. Na, und denn hab ich gewartet, und als ich euren Motor hörte, habe ich geschrien. Na, denn seid ihr ja auch gekommen. Aber da war ich schon so fix und fertich, un hab das alles gar nich mehr so mitgekriegt. Un ick hätt mich doch so gern bedankt!«
»Stimmt! Wir haben Sie nach Sandstedt gebracht und dort wurden Sie von einem Rettungswagen in ’s Krankenhaus gefahren. Mann, was bin ich froh, Sie heil und munter zu sehen«, freute sich Heinz und strahlte. Was für ein Zufall, der uns alle hierher geführt hatte.
»Un ick frrreu mich bannig, dass ich mich nu ein wenig bedanken kann. Los Jungs, das Fass muss lenz werden. Zurückgeben kann ich es nich mehr!«
Was meinte der Kerl damit, das Fass könne er nicht mehr zurückgeben? Und was war das für ein Gerede über den alten Mann? Ganz flüchtig schossen mir diese Gedanken durch den Kopf, aber meine Freunde lenkten mich ab.
»Leute! Was hier passiert ist, ist die merkwürdigste Sache, die mir je untergekommen ist, da bin ich mal ganz ehrlich«, stellte der lange Kuddel fest. »Ob der alte Fischer, der da angeblich bei unserem Wirt saß, wirklich auch der Geist des Mannes war, der vor langer Zeit ebenfalls dort über Bord ging und den man nicht rechtzeitig gefunden hat, ist denkbar aber unwahrscheinlich. Und dass der euch auch noch mit Lichtzeichen durch die Nacht geführt haben soll, wäre möglich, aber für aufgeklärte Männer wie uns natürlich nur eine unbewiesene Annahme. Ihr könnt sagen was ihr wollt, aber ich glaube einfach nicht an solche Spukgeschichten. An Zufälle, gut, auch an eine Reihe von Zufällen, aber nicht an Geister!«
»Wie auch immer, Kuddel! So unglaublich sich das alles anhört, die Geschichte ist wahr und so geschehen. Den Beweis haben wir hier. Also, wenn du kannst, gib mir eine rationale Erklärung«, forderte ich den Langen auf, der allerdings nur ein Achselzucken und ein ratloses Gesicht zustande brachte. Natürlich konnte er das nicht. Die drei Skipper schienen allerdings ein schlechtes Gewissen zu haben. Es tat ihnen leid, mich derart infrage gestellt zu haben.
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