Erst neulich hatte er einen Bericht gelesen, in dem verschiedene 'Glückspilze' porträtiert wurden. Da war von einem deutschen oder österreichischen Bauern berichtet worden, der etwas ungeschickt im Umgang mit einer Maschine war und man daraufhin beide geschnetzelten Unterarme über den halben Hof verteilt zusammenklauben konnte. Ein anderer hatte denselben Effekt mit einer selbstgebauten Silvesterrakete erzielen können und wieder ein anderer hatte eine Hand einem Pit Bull überlassen müssen. Sie alle hatten Glück im Unglück und kamen in den Besitz von neuen Händen oder Unterarmen. Deren Vorbesitzer waren wohl weniger glücklich, da zwar immerhin die Arme intakt blieben, aber irgendein lebenswichtiges Organ wie das Herz versagt hatte und sie dadurch zum Spender wurden. Solche Operationen waren zwar nicht immer von Erfolg gekrönt, denn fremde Körperteile oder Organe wurden oft auch vom eigenen Körper abgestossen – aber einen Versuch war es wohl wert gewesen.
Sofort versuchte er zu erfühlen ob an seinem Körper etwas fehlte, er versuchte jedes Körperteil zu erspüren, spannte Muskeln an, liess sie wieder locker und so wähnte er sich nach einem ersten durchgeführten Check, den er absolvierte so gut es gefesselt eben ging, vollständig und komplett. Ausser den pulsierenden Kopfschmerzen, die schon nach der kleinsten Anstrengung auftraten, tat ihm nichts anderes mehr weh. Da aber seine Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt war und er ausserdem örtlich betäubt sein konnte, war der Erkenntniszuwachs höchst marginal.
Aber warum verdammt noch mal kam niemand zu ihm? Oder besser gesagt, warum bemerkte er es nicht wenn jemand kam? Die Infusion wechselte sich schliesslich nicht von alleine und dieser Pissbeutel musste ja auch mal geleert werden. So kam er zu dem Schluss, dass die für ihn kaum sichtbaren Apparate hinter seinem Bett wohl auch zur Steuerung seiner Infusion dienen konnten und man ihn jederzeit, quasi per Knopfdruck und ferngesteuert, in einen tiefen Schlaf versetzen konnte.
So gesehen war die Ausgangslage also nicht gerade als ideal zu bezeichnen. Der nächste Schritt musste nun sein, herauszufinden wie das hier alles funktionierte, herauszufinden nach welchen Regeln gespielt wurde. Nur so konnte er den noch unbekannten Gegner vielleicht mit den eigenen Waffen schlagen. Dennoch blieben leichte Zweifel. Vielleicht bildete er sich das alles nur ein und er war tatsächlich krank? Dass er noch niemanden zu Gesicht bekommen hat, war vielleicht auch logisch zu erklären. Im ersten Moment hatte er keine Ahnung an welchem Punkt er ansetzen konnte. Gerade als er sein Gehirn auf halbe Kraft runterfahren wollte, vernahm er ein leises, aber dennoch gut hörbares Klicken, etwa einen Meter hinter ihm.
'Einer der Apparate …', ging es ihm durch den Kopf. Da überkam Peter wieder die gleiche Müdigkeit, die ihn während seines Aufenthaltes in diesem Zimmer schon mehrmals übermannt hatte.
Wie lange er dieses Mal weggetreten war, konnte er nicht einschätzen. Aber es konnte nicht allzu lange sein, da das Licht, welches durch das Fenster drang noch die gleiche Intensität zu haben schien wie vor seinem Schlaf. Er war also tatsächlich per Fernsteuerung ausgeknockt worden. Wie im Film. Mal sehen, ob ich Veränderungen feststellen kann, dachte er - und er konnte. Sein Bett war zurecht gezogen, der Beutel mit dem Urin war geleert und die Bandagen an seinen Armen waren nicht ganz an den gleichen Stellen. Das heisst, er musste losgebunden und bewegt worden sein. Das Klicken der Maschine vor seinem Schlaf war dabei immer noch in seinem Bewusstsein. Wenn er eine neue Situation herbeiführen wollte, wenn er also anfangen wollte das Ruder selbst in die Hand zu nehmen, dann musste er anfangen, den Gegner mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Wenn er nur wüsste, gegen welchen Gegner er anzutreten hatte.
Da Peter keine Fehler begehen wollte, nahm er sich Zeit und versuchte sich an Bücher, Zeitschriften und Filme zu erinnern in denen es gefesselte Personen geschafft hatten, zu fliehen. Tatsächlich lieferten ihm diese Überlegungen einige Helden, die es geschafft hatten, sich selbst zu befreien. Aber Filmhelden hatten es vermutlich etwas leichter als er, weil ihnen ein netter Regisseur alles für die Befreiung Notwendige mitgab. MacGyver zum Beispiel hätte aus einer Rolle Klopapier, einem Tennissocken und einer Tube Klebstoff eine Bombe und ein zwanzig Meter langes elastisches Seil zum abseilen gebaut. Und das mit nackten Füssen, weil er an den Händen gefesselt war. Leider half ihm hier die Parallelität mit den Fesseln und den nackten Füssen nicht wirklich weiter.
Im Film Con Air mit Nicolas Cage zog ein Gefangener, der eingeschlossen in einem Käfig mit einem Flugzeug von einem Gefängnis zu einem anderen transportiert werden sollte, eine Büroklammer aus dem Mund, um mit dieser dann die Handschellen zu öffnen. Die Büroklammer hatte er vorsichtshalber bestimmt immer im Mund, da man nie wissen konnte, ob man nicht mal mit Handschellen gefesselt wird.
In anderen Filmen zogen die Helden ein Messer aus dem Stiefel, um ihre Fesseln durchzuschneiden. Überhaupt laufen künftige Gefangene aus diesem Grund anscheinend immer in Stiefeln herum, in denen vorsichtshalber ein Messer deponiert ist. Peter fragte sich, was der Typ mit der Büroklammer wohl getan hätte, wenn er mit einem Seil statt mit Handschellen gefesselt gewesen wäre. Und was hätte derjenige mit dem Messer gemacht, wenn er mit Handschellen statt mit einem Seil gefesselt gewesen wäre? Film und Wirklichkeit schienen nicht immer nahe beieinander zu sein. Wieder andere konnten ihren Körper so winden, dass sie plötzlich ohne Fesseln dastanden. Seine Fesseln waren jedoch so stramm, dass es da nicht wirklich viel zu winden gab. Er suchte weiter nach Parallelen zu seinem Fall.
Normalerweise schreien ans Bett gefesselte wie verrückt, dass sie auf die Toilette müssen, Hunger oder Durst haben und überraschen dann den etwas tölpelhaften Aufpasser, um ihn zu überwältigen. Nur hatte keiner von denen im Film die Abwasserleitung schon direkt am Körper installiert und Hunger und Durst konnte man mit der Infusion wohl auch nicht glaubhaft vermitteln. Sein Regisseur war offensichtlich eine Pfeife.
Peter musste sich also etwas anderes einfallen lassen. Ein erneutes Klicken schräg hinter ihm brachte ihn auf eine Idee. Er erwartete sekündlich seinen nächsten Müdigkeitsanfall, doch der blieb dieses Mal aus. Die Maschine musste ihm wohl etwas anderes zugeführt haben. Peter musste es also vor seiner nächsten Zwangspause schaffen, die Infusion irgendwie daran zu hindern, in seinen Körper zu gelangen. Da die Leitung ungefähr auf Ellbogenhöhe unter der Bettdecke verschwand und der Schlauch in die passende Richtung zeigte, vermutete er den Port am linken Handgelenk.
Der Plan war einfach und sicher kein Geniestreich. Das war ihm klar. Und vor allem war er nicht zu Ende gedacht, da er nicht zu Ende gedacht werden konnte. Dazu hatte er schlicht zu wenige Informationen. Peter wusste, dass er improvisieren musste. Folglich versuchte er in den nächsten Minuten seinen Körper so weit wie möglich nach links zu manövrieren und ihm eine Krümmung wie bei einer Banane zu geben. Netterweise waren diese Bemühungen von starken, stechenden Kopfschmerzen begleitet. Mit dieser kaum sichtbaren Schmalspurakrobatik schaffte er es, sein linkes Handgelenk unter seinen Beckenknochen zu schieben. Sofort spürte er, dass seine Vermutung korrekt war, denn den harten Einlass des Ports bekam er direkt am Becken zu spüren. Nach einer weiteren Verlagerung um einige wenige Zentimeter konnte er den Schlauch so an den Beckenknochen drücken, dass dieser den Durchfluss stoppen sollte. Nun konnte er nur noch abwarten und hoffen, dass er den Plan seiner Widersacher damit ausreichend durchkreuzte. Der Apparat zumindest quittierte seine Bemühungen nach kurzer Zeit mit einem aufdringlichen Piepsen, welches ihn an das Signal in seinem Auto erinnerte, wenn er den Sicherheitsgurt nicht angelegt hatte. Schräg, dachte er, denn besser angeschnallt als jetzt war ich noch nie. Dann hörte er hastige Schritte von aussen näher kommen.
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