Langsam wurde es dunkel, und sie entschlossen sich, zurück nach Hause zu fahren. Jana hatte einen ganzen Stapel Fotos mitgebracht, und Stephanie war sehr gespannt. Nicht alle hatte Jana selbst gemacht, mindestens fünf Dutzend hatte Stephanies Mutter ihr mitgegeben. „Damit sie uns das nächste Mal noch erkennt“, hatte sie zu Jana gesagt. Stephanie verdrehte die Augen, als diese ihre Mutter zitierte. Sie liebte ihre Familie, aber ihre Mutter konnte auch sehr klammern, und seitdem sie weit von Hamburg weg wohnte, genoss sie diesbezüglich eine ganz neue Freiheit. Ihre Mutter hatte Fotos vom Haus, von ihren Geschwistern, vom Garten und sogar von der Garage gemacht. „Du meine Güte“, stöhnte Stephanie, „glaubt sie, ich hab’ schon Alzheimer?“ Jana fiel fast vom Sofa. „Ich bin doch nicht aus der Welt, nicht mal aus Deutschland raus.“ Stephanie konnte es nicht fassen. „Und bevor ich’s vergesse, ich musste deiner Mom fest versprechen, dich in allen Lebenslagen und vor allem jede Ecke deiner Wohnung zu fotografieren.“ unterbrach Jana. „Untersteh’ dich! Sonst noch ‘was!?“ „Ja, ich soll dir sagen, dass sie im UKE eine OP–Schwester suchen.“ Eine Freundin von Stephanies Mutter arbeitete in der Verwaltung der Universitätsklinik in Hamburg-Eppendorf und wusste immer zuerst die neuesten Neuigkeiten von dort. „Oh nein, bitte nicht!“ Stephanie nahm sich vor, einmal ein ernstes Wort mit ihrer Mutter zu reden. Erst die verratenen Telefonnummern, und nun dies. So konnte das nicht weitergehen. Ihre Mutter musste lernen und akzeptieren, dass das Leben ihrer Tochter anders verlief, als sie es sich vorstellte. Ihr wurde immer klarer, dass es für sie keinen Weg zurück nach Hamburg geben würde.
Das Telefon im Schwesternzimmer klingelte. Es war 6 Uhr 13, die Nachtwache wollte mit der Übergabe beginnen, aber Britta war noch nicht da. Ungewöhnlich, denn eigentlich war sie sehr pünktlich und zuverlässig. Stephanie saß am nächsten am Apparat und nahm das Gespräch entgegen. „Station C 1, Schwester Stephanie, guten Morgen.“ Pause. „Au weia. Na dann, gute Besserung. Melde dich, sobald du mehr weißt.“ Die Kolleginnen sahen sie gespannt an. „Das war Britta. Sie hat Fieber und irgendeinen Ausschlag und geht später zum Arzt.“ „Dann müssen wir heute wohl mit einer Kraft weniger auskommen“, meinte eine Kollegin nur, „also lasst uns fertig werden mit der Übergabe, damit wir es schaffen.“ Stephanie hatte nach vier freien Tagen nicht so viel verpasst, so dass sie sich nicht groß neu einarbeiten musste. Zwei Patienten waren entlassen worden und es gab nur einen Neuzugang, eine ältere Frau, die einen kleineren Eingriff vor sich hatte.
Nach der Visite wurde ein weiterer Patient entlassen, und Stephanie übernahm die Aufgabe, sein Bett abzuziehen und das Bett und den Nachttisch zur Desinfektion zu bringen. Das war eine übliche Prozedur. Sie öffnete die Tür zu Zimmer 23, in dem jetzt nur noch der junge Mann mit dem schweren Skiunfall lag. Vor einigen Tagen war er zum zweiten Mal operiert worden, und wie Stephanie aus der Übergabe wusste, war die Prognose immer noch nicht gut und lief schon jetzt auf eine eventuelle dritte Operation hinaus. In ihrem Beruf hatte sie gelernt, sich von den persönlichen Schicksalen der Patienten abzugrenzen, aber Michael Aschmann tat ihr Leid. Sie mochte den jungen Mann, der trotz seiner Situation immer freundlich war und fast an allem noch etwas Positives fand. Er strahlte eine innere Ruhe aus, die sie bewunderte. „Guten Morgen“, grüßte sie fröhlich zum Bett am Fenster und war erstaunt, dass keine Antwort kam. Das war ungewöhnlich für den aufmerksamen jungen Mann. Michael lag auf dem Rücken und hatte den Kopf zum Fenster gedreht. Schlief er? Stephanie ging leise ein paar Schritte auf ihn zu, denn sie wollte ihn nicht wecken. Er hatte die Augen geschlossen. Leise wollte sie mit ihrer Arbeit beginnen, als sie ein unterdrücktes Geräusch hörte. Sie legte das Kopfkissen wieder auf das leerstehende Bett und trat an Michaels Bett. Unter seinen geschlossenen Augenlidern liefen Tränen hervor.
Jetzt war ihr die wartende Arbeit erst einmal zweitrangig. Spätestens an diesem Punkt war ihr das Abgrenzen schon immer schwer gefallen, und sie vertrat vehement die Ansicht, dass der Mensch immer wichtiger sei als Dinge, die zu erledigen waren. Nicht jede Stationsschwester sah das genauso, und Stephanie hatte schon die eine oder andere Auseinandersetzung diesbezüglich geführt. Von ihrer Überzeugung ließ sie sich jedoch nicht abbringen. So konnte sie auch jetzt nicht mehr einfach so tun, als gäbe es nichts Wichtigeres, als das leere Bett im Zimmer. Sie wusste, dass der Urlauber hier im Grunde keinen Menschen kannte. Seine Diagnose kannte sie auch, und so brauchte sie nicht viel Fantasie, um sich auszudenken, was ihn bedrückte. Leicht legte die Hand auf seinen Arm. „Schlechte Nachrichten?“ fragte sie vorsichtig. Michael nickte kaum merklich. Er konnte die Tränen nicht zurückhalten, was ihm sichtlich peinlich war. Allerdings vermittelte Schwester Stephanie ihm den ehrlichen Eindruck, dass auch Tränen mal sein dürfen und gar nicht peinlich sind. Er war sehr froh, dass er seit heute Morgen alleine im Zimmer war – seine Mitpatienten wären vermutlich weniger feinfühlig gewesen. Stephanie blieb einige Minuten wortlos an seinem Bett stehen – es gab nicht viel zu sagen, und sie konnte nicht viel tun, außer ihm ein Stück menschliche Nähe zu geben.
Schließlich kam sie doch in zeitliche Bedrängnis, da durch Brittas Ausfall mehr Arbeit für jeden anfiel. Sie stand langsam auf, wollte Michael aber noch einmal deutlich machen, dass sie ein offenes Ohr für ihn hatte. „Kann ich irgendetwas für Sie tun?“ fragte sie leise. Jetzt öffnete er die Augen und lächelte schon wieder ein wenig. „Schon passiert“, antwortete er, „danke.“ Stephanie lächelte ihn an und drückte seine Hand, bevor sie sich dem verlassenen Bett an der Tür zuwandte. Als sie mitsamt dem Bett das Zimmer verlassen wollte, drehte sie sich noch einmal um. „Wenn ich noch was anderes für Sie tun kann, lassen Sie es mich wissen.“ Michael nickte und fragte dann: „Haben Sie vielleicht ein Taschentuch?“ Nun mussten beide lachen und Stephanie zog ein Päckchen Papiertaschentücher aus der Kitteltasche.
* * *
Punkt 14 Uhr 30 sprang Stephanie vom Stuhl auf. Die Spätschicht war längst da, die Übergabe war beendet, und zu Hause wartete Jana. Immer noch meinte das Wetter es super gut mit ihnen – und sie wollten jeden Tag ausnutzen. In den letzten Tagen hatte Jana den Ort kennen gelernt, war zweimal am Königssee gewesen und ließ sich von Stephanie überzeugen, dass die berühmte Kirche in der Ramsau wirklich sehenswert war. Heute wollten die beiden einen Einkaufsbummel im nicht sehr weit entfernten Bad Reichenhall machen. Stephanie kannte die kleine Stadt auch noch nicht, hatte sich aber von Britta sagen lassen, dass es dort sehr nett sei. Schnell umziehen und dann nichts wie zum Auto. Bevor sie den Motor startete, drückte sie eine Kurzwahltaste auf ihrem Handy. „Hi, ich fahre jetzt los. In 5 Minuten stehe ich vor der Tür. Komm schon mal runter, dann können wir gleich weiter fahren.“
„Meine Güte, du hast eine Energie!“ Jana ließ sich auf den Beifahrersitz fallen. „Wenn ich um fünf aufgestanden wäre, würd’ ich jetzt nur noch schlafen wollen.“ „Hätte ich auch nichts dagegen“, grinste Stephanie, „aber was machst du dann den Rest des Tages?“ Jana boxte sie in die Seite. „Auf nach Bad Reichenhall zu den berühmten Salzquellen.“ Während Stephanie sich durch den Verkehr fädelte, spielte Jana am Radio herum, als Stephanies Handy klingelte. „Jana, geh mal ran, ich kann grad nicht.“ Jana drückte die Sprechtaste. „Hallo? – Nee, ich bin Jana. Stephanie übt gerade Autofahren.“ Die Genannte grunzte und nahm ihrer Beifahrerin das Handy aus der Hand. „Stephanie Harmsen, hallo? – Ach Britta, hi! Wie schaut’s bei dir? – Ach du meine Güte. Das dauert ja wohl länger, oder?“ Nach ein paar weiteren Sätzen und guten Wünschen legte Stephanie auf. Jana sah sie fragend an. „Britta hat sich heute Morgen schon krank gemeldet“, erklärte Stephanie. „Sie kommt gerade vom Arzt und hat die Röteln.“ „Na, hoffentlich hat sie euch nicht alle angesteckt“, meinte Jana. „Ich hatte sie schon, da besteht keine Gefahr. Was mit den anderen ist, wird sich zeigen. Schade“, ergänzte Stephanie dann, „dann wird aus eurem Kennenlernen wohl nichts.“ Jana fand das nicht so tragisch und meinte, dazu gäbe es mit Sicherheit noch reichlich Gelegenheiten in Zukunft.
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