„Tapferes Entchen“, sagte ich.
„Ja“, meinte Julian, „todesmutig.“
„Wie groß es sich machen konnte, als der Hund kam“, staunte ich. „Es sah fast so aus, als wolle es sich auf den Angreifer stürzen.“
„Der Hund hätte sich trotzdem eins der Kleinen geschnappt. Die liefen ja vor Schreck durcheinander.“
„Man sagt ja immer, so etwas sei Instinkt, aber eigentlich würdigt man damit die Tapferkeit der Ente herab.“
„Die Tiere sind tapferer als die Menschen, weil sie nicht überlegen“, meinte Julian. „Vom Pelikan berichten ja alte Quellen, dass er sich selbst zerfleischt, um seine Jungen in der Not zu ernähren.“
Ich widersprach: „Menschen handeln auch instinktiv. Noch bevor sie Zeit haben zu überlegen, werfen sie sich bei Gefahren schützend über ihre Kinder, bei Bombenangriffen zum Beispiel, und wenn sie Zeit haben zu überlegen, sind sie auch oft bereit, ihr Leben für ihre Kinder zu opfern, und das ist dann ein Opfer, das die Tiere nicht bringen können. Das Problem ist, dass sich die Kinder später dafür Vorwürfe machen.“
„Wie meinst du das?“, fragte Julian.
„Ich habe gerade eine junge Patientin, die sich Vorwürfe macht, weil ihr Vater durch ihre Schuld gestorben ist. Als er sie gerettet hat, ist er zu Tode gekommen.“
Julian schaute mich fragend an. Er wollte mehr wissen.
„Diese Patientin, sie ist jetzt zweiundzwanzig, hat sich als achtjähriges Mädchen von der Hand ihres Vaters losgerissen und ist auf die Straße gerannt, wo sie beinah von einem heranbrausenden Auto überfahren wurde. Als sie das Auto auf sich zukommen sah, ist sie vor Schreck erstarrt statt zurückzulaufen. Der Vater ist auf die Straße gesprungen, hat sein Kind von der Fahrbahn geschleudert und ist dann selbst überfahren worden.“
„Und sie macht sich jetzt Vorwürfe? Sie war doch noch ein Kind.“
„Sie hat sich einen Mann gesucht, der ihrem Vater ähnlich ist, kann aber nicht mehr mit ihm schlafen.“
„Sie konnte also vorher mit ihm schlafen?“
„Es ging wohl jahrelang gut; aber es ist dann immer schwieriger geworden. Sie hat Probleme, ihren Vater mit seinem Ebenbild zu betrügen. Aber sie hat noch weitere Probleme: Inzwischen ist sie auch kaum noch in der Lage, auf die Straße zu gehen. Sie sieht auch auf dem Bürgersteig Autos von jeder Seite auf sich zukommen. Dabei hat sie sich, so scheint es, jahrelang ganz normal entwickelt, Abi gemacht und eine Banklehre abgeschlossen.“
„Wie kommt es, dass es nach Jahren aufbricht?“
„Das weiß ich auch nicht. Ich nehme an, man hat das Kind schonen wollen und die Sache nicht angesprochen. Es gab ja auch keinen vernünftigen Grund, ihr Vorwürfe zu machen. Wie du schon gesagt hast, sie war ja noch ein Kind. Aber sie wird die Erinnerung behalten haben und irgendwann muss das Erlebnis mal verarbeitet werden. Ich weiß nicht, was der Auslöser war. Sie auch nicht.“
„Sie wird in ihrem toten Vater einen Helden sehen.“
„Das könnte man denken. Sie redet aber durchaus sachlich über ihrem Vater. Sie glorifiziert ihn nicht. Er war wohl recht streng und sie hing eigentlich mehr an ihrer Mutter.“
„Vielleicht sollte sie ihn glorifizieren.“
„Ich halte mehr von der Wahrheit.“
„Aber er war doch ein Held!“
„Vielleicht sollte sie stolz auf ihn sein.“
Julian schwieg. Wir gingen eine Zeitlang nebeneinander her, ohne ein Wort zu reden. Ich war mit meinen Gedanken schon abgeschweift zur nächsten Therapiesitzung, als Julian unvermittelt sagte:
„Eigentlich war es ein schöner Tod.“
Einige Tage später überraschte mich Julian mit der Information: „Herr Lehmann war auch Ingenieur“
„Welcher Herr Lehmann?“, fragte ich.
„Der seine Tochter gerettet hat und dann selbst überfahren wurde. - Über den wir vor einer Woche gesprochen haben.“
Ich schaute ihn mit offenem Mund an.
„Woher weißt du das, und woher hast du seinen Namen? Ich habe ganz bestimmt keinen Namen genannt. Ich weiß ja noch nicht einmal selbst, wie der Mann hieß, weil die Tochter doch geheiratet hat und nicht Lehmann heißt.“
„Beruhige dich, du hast keinen Namen genannt; aber es war nicht schwer, den Namen herauszufinden. Du hast gesagt, das Mädchen war acht, als der Unfall passierte und jetzt ist sie zweiundzwanzig. Die Sache ist also vierzehn Jahre her, und es gibt gute Zeitungsarchive.“
„Das glaube ich nicht“, sagte ich. „Warum hast du das getan?“
„Ich wollte wissen, was das für ein Mann war.“
„Und? Was hast du herausgefunden?“
„Weniger, als ich von dir erfahren habe. Nur in zwei Boulevard-Zeitungen habe ich etwas gefunden. Danach war er ein Held. Das hatte ich mir aber schon gedacht. Über seinen Charakter hat man sonst nichts erfahren.“
„Versprich mir, dass du nie mehr Nachforschungen anstellst über Patienten, von denen ich dir erzähle, oder deren Angehörige. Sonst werde ich dir nichts mehr aus der Praxis berichten.“
„Ist ja schon gut. Ich habe doch nur ein wenig in der Zeitung geblättert.“
Im Juni fuhr Julian übers Wochenende zu einem Schulungskurs des Weißen Rings.
„Wie kommst du denn darauf?“, fragte ich.
„Du beschäftigst dich mit den Tätern, ich mit den Opfern“, sagte er.
Ich empfand diese Antwort als Provokation.
„Da liegst du falsch“, sagte ich. „Ich beschäftige mich mit psychisch Kranken, unabhängig davon ob sie Täter oder Opfer sind.“
„Man muss doch nur die Zeitung aufschlagen. Die Gutachter beschäftigen sich doch immer nur mit den Tätern. Deren Seelenleben muss ungeheuer interessant sein, im Gegensatz zu dem der Opfer.“
„Gut, die Gerichte schicken einem die Täter zur Begutachtung; die Opfer kommen freiwillig.“
„Oder auch nicht. Über die Täter kann man seitenlange Abhandlungen lesen, die Opfer werden nur der Vollständigkeit halber erwähnt. Und dann müssen sie sehen, wie sie mit dem Rest ihres Lebens zurecht kommen.“
Ich lenkte ein: „Ich finde das wichtig, was der Weiße Ring tut. Ich wollte von dir nur wissen, wie du dazu gekommen bist, da mitzumachen.“
„Ich habe vor einigen Tagen einen Bericht gelesen über das Verfahren gegen die zwei Jugendlichen, die einen Kioskbetreiber vor einem halben Jahr zusammengeschlagen haben. Du erinnerst dich?“
„Ja; ich habe auch darüber gelesen.“
„Der Artikel hat sich überwiegend mit dem Seelenleben der beiden Täter befasst, ihren Familienverhältnissen und ihrem bisherigen Lebenslauf, der im Wesentlichen aus Straftaten und Bewährungsstrafen bestand. Nebenbei wurde erwähnt, dass das Opfer ein Auge verloren hat und auf Krücken angewiesen ist. Dabei war der Mann erst fünfunddreißig. Er muss jetzt sehen, wie er als Krüppel seine zwei Kinder durchbringt. Von der Rente wird er kaum leben können. Die Täter haben natürlich eine Jugendstrafe bekommen. Die Armen“, sagte er ironisch, „ müssen jetzt auf Staatskosten eine Ausbildung machen, damit sie nach der Haft gut leben können.“
Julian bewertete den Bericht mit hörbarer Verbitterung. Ich hatte die Vermutung, dass ihm irgendetwas passiert sein musste, das sein besonderes Interesse an den Opfern erklärte. Wenn das so war, konnte sein Engagement beim Weißen Ring kaum schaden. Man sagt allgemein, dass der am besten trösten kann, der selbst in einer ähnlichen Situation war wie der Trostbedürftige. Auch uns Psychiatern wird ja unterstellt, dass wir besonderes Interesse an psychisch Kranken hätten, weil wir selbst unter deren Problemen litten. Und in der Tat glaube ich, dass jemand, der wenig gelitten hat in seinem Leben, kaum ein guter Psychiater sein kann. Andererseits sollte man die Probleme aber auch hinter sich haben, bevor man sich auf Patienten stürzt, weil man sonst die eigenen Probleme auf den Patienten projiziert. Und bei Julian bestand meiner Meinung nach auch die Gefahr, dass er seine eigenen Erlebnisse nicht verarbeitet hatte. Ich war mir also in der Bewertung seines Engagements nicht ganz sicher, dachte aber an die anonymen Alkoholiker, die erfolgreicher waren als die meisten Therapeuten, gerade weil selbst Betroffene mit den Alkoholikern sprachen und nicht Besserwisser, die die Probleme nicht kannten.
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