Die Wohnung war groß und hell, besonders das Wohnzimmer, das recht karg, aber geschmackvoll eingerichtet war: eine breite Glasfront zum Garten hin, vor der jetzt der Hund stand und durch Knurren auf sich aufmerksam machte, ein Esstisch mit vier Stühlen, ein Sofa mit Beistelltisch, ein Sideboard, ein paar Bilder und ein Bücherregal, das eine Wand verdeckte. Auffälligstes Mobiliar war ein Klavier rechts an der weißen Wand. „Du spielst Klavier?“, fragte ich ihn. „Hin und wieder“, sagte er. Ich bat ihn, mir etwas vorzuspielen. Er zierte sich nicht lange, sondern fragte mich, was es denn sein solle. Ich überließ ihm die Auswahl. Ich habe wenig Ahnung von Musik, lasse mich aber gerne von ihr einfangen. Julian spielte etwas Träumerisches, das mich über eine verschneite Landschaft fliegen ließ. Ich hatte aber auch Zeit, mich im Wohnzimmer umzusehen. Über dem Klavier waren zwei helle Stellen, an denen offenbar vor nicht allzu langer Zeit Bilder gehangen hatten. Die Nägel darüber waren noch nicht entfernt. Dann überließ ich mich wieder meinen Traumbildern. „Schläfst du?“, fragte Julian plötzlich. Ich hatte mit geschlossenen Augen auf dem Sofa gesessen, sodass ich gar nicht bemerkt hatte, dass er nicht mehr spielte. „Du hast mich zum Träumen gebracht“, sagte ich, „es war sehr schön.“
„Hast du etwas dagegen, wenn ich den Hund mal hereinhole, damit er mit dir Freundschaft schließt?“, fragte Julian. „Ich möchte nicht, dass er dich auch künftig ankläfft, wenn du mich besuchst.“
„Wenn es hilft und er mich nicht beißt.“
„Keine Sorge!“
Er ließ den Hund durch die Terrassentür herein und stellte mich als Freundin vor. Der Hund war nun ganz ruhig und kam zu mir, um sich ein wenig kraulen zu lassen. Ich mag eigentlich keine Hunde; ich liebe Katzen. Mit Hunden muss man sich dauernd beschäftigen, weil sie so auf ihren Herrn fixiert sind, ihn dauernd anstarren und auf seine Befehle warten. So ein Verhalten ist mir zu sklavisch. Katzen dagegen können sich gut alleine beschäftigen und auf Befehle reagieren sie allergisch. Wenn sie Lust haben, kommen sie und lassen sich streicheln; wenn sie keine haben, bleiben sie weg. Und wenn man eine Katzenklappe zum Garten hin hat, hat man mit ihnen keine Arbeit. Hunde sind dagegen nicht nur eine Belastung für ihre Besitzer, die sie alle paar Stunden Gassi führen müssen, sondern ein Alptraum für Jogger, weil diese Kläffer, besonders die kleinen, immer zeigen müssen, wie gefährlich sie sind. Dieser Hund hier benahm sich aber ordentlich.
„Wie heißt er denn?“, fragte ich.
„Theo.“
„Theo? Seltsamer Name für einen Hund.“
„Er hat gewisse Ähnlichkeit mit meinem Onkel Theo.“
Ich stellte mir Onkel Theo vor, und das ließ ihn nicht vorteilhaft erscheinen: vorstehender Unterhiefer, Sabber in den Mundwinkeln und Haare auf dem Rücken. Er war aber so gut wie der erste Verwandte Julians, von dem ich erfuhr.
„Was ist denn das da an der Tür?“, fragte ich.
„Der Monitor? Der gehört zu der Kamera, die den Eingangsbereich überwacht.“
Vielleicht entglitt mir in diesem Moment ein Hmm, so ein Hmm, das oben in der Tonskala anfängt und dann noch etwas weiter nach oben geht. Jedenfalls fuhr er fort: „Du wunderst dich vielleicht darüber, dass ich so etwas in dieser friedlichen Gegend brauche. Meine Frau wollte so etwas haben. Sie war ein wenig ängstlich.“
„Daher auch der Zaun und der Wachhund?“
„Was soll ich machen? Ich kann den Zaun vorläufig nicht abbauen, weil der Hund Auslauf braucht, und ich will ihn nicht in ein Tierheim geben.“
„Dein Haus hat im Dorf einen Spitznamen“, sagte ich, „Fort Knox.“
„Nicht schlecht“, meinte er, „aber Gold ist hier nicht zu holen.“
Sein lockerer Ton ermunterte mich, ihn ein wenig auszufragen. „Gab es einen besonderen Grund, warum deine Frau so ängstlich war?“
„Sie ist einmal überfallen worden.“
„Wo?“
„In unserem Haus in Lima.“
„Ist ihr etwas passiert?“
Julian zögerte einen Moment. „Man hat sie in den Keller gesperrt und sie musste warten, bis einer, ich meine ich, nach Hause kam. Die Einbrecher haben mitgenommen, was sie gebrauchen konnten.“
Ein etwas peinliches Erlebnis einige Monate später ließ mich daran zweifeln, dass es nur seine Frau war, die von diesem Einbruch mitgenommen war. Es war im späten Herbst. Wir saßen wieder einmal bei ihm im Wohnzimmer, draußen tobte ein wilder Sturm, begleitet von Blitz und Donner, als plötzlich die Terrassentür erzitterte. Theo, der nachts und bei schlechtem Wetter im Haus war, sprang auf und bellte die Tür an. Julian schob mich vom Sofa und rief „Hinlegen!“ Er selbst robbte zum Lichtschalter und machte dunkel. Dann versteckte er sich hinter dem Sofa, was ich mehr hörte als sah. Ich kroch zu ihm hin und schaute dann an der einen Seite des Sofas in Richtung Terrasse, genau so wie der Hund, der immer noch bellte. Im Schein eines Blitzes erkannte ich aber, dass niemand die Glastür aufhebeln wollte, sondern dass ein großer Ast auf die Terrasse gekracht und gegen die Tür gefallen war. Julian musste es auch gesehen haben; denn er stand auf und sagte „Fehlalarm“. In der Hand hielt er eine Pistole.
Immer wenn ich mit ihm verabredet war, empfing er mich an der Haustür. Eines Nachmittags, als ich vom Einkaufen nach Hause ging und gerade an seinem Haus vorbei kam, fiel mir ein, dass ich ihn noch fragen musste, wann wir uns zum Tennis treffen wollten. Sein Auto stand schon vor der Tür. Also klingelte ich bei ihm, statt ihn von zu Hause aus anzurufen. Julian ließ mich warten, dann rief er vom Wohnzimmer aus: „Einen Moment noch.“ Es war ein recht langer Moment. Nun gibt es sicher viele Gründe, weshalb jemand einen unerwarteten Besucher nicht jederzeit sofort ins Haus lassen kann. Ich war aber sicher, dass er irgendetwas vor mir verbergen musste, vor allem die Bilder über dem Klavier. Als er mich dann an der Haustür abholte, zeigte er sich erfreut über den spontanen Besuch und liebenswürdig wie immer. Wir tranken auch noch einen Kaffee zusammen, wobei wir allerdings vom Läuten des Telefons gestört wurden. Er ließ es nicht lange läuten, sondern nahm gleich ab. „Jetzt nicht“, sagte er, „ich rufe dich nachher an.“ So etwas erlebt man ja öfter und es ist ja eigentlich ein Gebot der Höflichkeit, kein Telefongespräch in Anwesenheit eines Gastes zu führen; aber die eindringliche Art, in der er das Gespräch abwürgte, machte den Eindruck, als dürfe auf keinen Fall ein verräterisches Wort laut werden. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich annehmen müssen, dass er eine heimliche Geliebte hatte; aber mir war klar, dass es nur seine geschiedene Frau sein konnte. Er entschuldigte sich kurz wegen der Störung, machte aber keine Anstalten, mich aufzuklären. Ich ließ ihm sein Geheimnis. Ich wollte nicht seine Therapeutin werden, sondern seine Freundin bleiben.
Im Frühsommer machten wir einen Spaziergang in der Holsteinischen Schweiz. Wir gingen gerade an einem der vielen Seen entlang, als eine Entenmutter mit ihren Küken im Schlepptau den Wanderweg überquerte. Plötzlich schoss ein laut kläffender kleiner Hund aus dem Wald und raste auf die Gruppe zu. Die Entenmutter stellte sich dem Angreifer schnatternd in den Weg, plusterte sich auf und schlug so heftig mit den Flügeln, dass sie sich schon vom Boden erhob. Julian rannte sofort schimpfend los, um den Hund zu vertreiben, was ihm aber erst gelang, als er nach dem Hund trat. Der Hund wich zurück, bellte aber aus sicherer Entfernung Julian an. Bald darauf hörten wir einen Pfiff. Der Eigentümer des Hundes wurde sichtbar und befahl den Hund zu sich, der sich daraufhin, indem er sich gelegentlich umdrehte und Julian ankläffte, zu seinem Besitzer zurückzog. Julian fuhr den Mann an, was er sich denn dabei denke, seine Töle im Naturschutzgebiet herumlaufen zu lassen. Der Hundebesitzer drohte Julian, er werde ihn anzeigen wegen Tierquälerei, erkundigte sich aber nicht nach Name und Adresse.
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