Dem König und der Königin jedoch bereitete das Spielen ein solches Vergnügen, dass ihr Lachen noch am Schlosstor zu hören war. So setzte sich der Mann, der mit seinem Schnürsenkel das Längenmaß erfunden hatte, auf die oberste Stufe der Schlosstreppe und starrte auf die Buchstaben zwischen den Beinen.
In einem dieser Momente, als er da so saß – keiner weiß mehr, wann das war –, folgte er einer dritten Eingebung, die ihn beinah das Leben gekostet hätte.
Nach dem angeregten Spiel war das Königspaar zu einem Spaziergang aufgebrochen. Da sah es den Wissenschaftler mitten auf dem schönen Sinnspruch sitzen. Von dem ZUM FREUEN BRAUCHT EIN JEDER RUH war nur noch das ZUM FREU und das RUH zu erkennen, und hin und wieder lugte auch noch ein H zwischen den Beinen des Mannes hervor. Es war aber vor allem das ungewöhnliche Gehabe dieses Menschen, was den Blick des Königspaares auf sich zog.
Gerade legte der Mann einen seiner Schuhe rechts von sich auf dem steinernen Treppenabsatz ab, um nun ein schon eng beschriebenes Blatt Papier aufzunehmen und darin etwas einzutragen. Dann legte er das Blatt beiseite, ließ den Schuh links von sich auftippen, dann zwischen den Beinen, dann rechts, nahm das Papier – und das immer wieder von vorne.
Das Königspaar schaute ihm dabei eine Weile zu, bis die Königin wissen wollte: „Was machst du da?“
Um die Antwort war der Mann nicht lang verlegen: „Ich übe den U-H-R-Sprung und messe dabei, wie lange etwas dauert.“ Während er das zum Besten gab, hörte der Wissenschaftler nicht auf, den Schuh vom U des FREU zum H zwischen den Beinen auf das R des RUH zu tippen. Und jeder dieser Vorgänge wurde schriftlich bearbeitet – er war wirklich sehr gewissenhaft. Endlich schien der Wissenschaftler die gewünschte Aufmerksamkeit erreicht zu haben.
„Und wie lange dauert es?“, fragte der König etwas herablassend.
„Das kann ich noch nicht sagen“, antwortete er. „Erst wollte ich messen, wie lange ihr spielt, und dann, wie lange ihr lacht, und nun messe ich gerade, wie lange ihr euch mit mir unterhaltet – aber das dauert und dauert ...“
„Aha“, sagte der König und verstand nichts.
„Hm“, machte die Königin, und dann gingen die beiden spazieren.
Der Wissenschaftler jedoch begann sofort, nun auch die Dauer des königlichen Spaziergangs zu erfassen.
Das Blatt wies nur noch wenig Weißes auf, als dem Wissenschaftler der Magen knurrte, da er wohl beim Messen reden, nicht aber messen und gleichzeitig zu essen vermochte. Gerade dachte der gewissenhafte Wissenschaftler daran, wie schön es wäre, Durst und Hunger in der Schenke zu stillen, da wurde er schon wieder angesprochen.
„Was machst du da?“, hörte er erneut die Frage des Königspaars neben sich. Aber diesmal kam sie aus dem Munde einer strahlenden Fee. Der verdutzte Wissenschaftler antwortete, wie er dem Königspaar geantwortet hatte, ohne dabei auch nur für einen Augenblick seine Messungen zu unterbrechen.
„Das muss ein schlimmer Zauber sein“, meinte die Fee. „Ich will dich davon erlösen, denn ich bin eine gute Fee.“
Und gerade als der Wissenschaftler wieder das Papier zur Hand nehmen wollte, spürte er einen warmen Kuss auf seinem Mund.
Mit immer noch leeren Händen den Nachgeschmack des Kusses genießend, fragte er sich, was er jetzt weiter tun sollte. Das fragte er auch die Fee. Da küsste sie ihn ein zweites Mal, leckte sich danach mit der Zunge über die Lippen und forderte ihn auf: „Komm doch mit, dann können wir uns noch öfter küssen.“
Endlich überzeugt stand der Wissenschaftler von den kalten Stufen auf und verschwand Hand in Hand mit der Fee in ihr Feenreich.
Als das Königspaar in der Dämmerung von seinem Spaziergang zurückkam, war der Mann mit dem merkwürdigen Gehabe nicht mehr zu sehen. Nur seine Utensilien lagen noch auf dem Treppenabsatz. Der König bückte sich und hob sie auf. Im Schuh entdeckte er ein gefaltetes Stück Papier. Das gab er seiner Frau, damit sie es ihm vorlese.
„Neun Schnürsenkel lang, sieben Schnürsenkel und einen Schuh breit. Was kleiner als ein Schnürsenkel ist, ist so lang wie ein Schuh.
Der U-H-R-Sprung der Zeit, kurz Uhrsprung genannt, wird gemessen wie folgt: 1, 1, 1, 1, 1, 1, 1, ... – lieber Gemahl, hier sind lauter Einsen. Soll ich sie dir alle vorlesen?“
„Nein, lieber nicht. Ich habe Hunger. Lass uns zu Tisch gehen, Liebste.“
So sprach der König und zog dabei den Schnürsenkel durch die Löcher im Schuh. Vielleicht könnte ihn ja irgendwer noch einmal gebrauchen. Die Königin hakte sich alsdann beim König ein und steckte den ersten wissenschaftlichen Forschungsbericht des Landes in ihre Rocktasche – wo er schnell vergessen war und dieses Land deshalb von der Zeitmessung unberührt blieb.
Nur wann das alles war, das weiß keiner mehr.

Der Eine war ein Mensch, der nur schlief, um sich für den kommenden Arbeitstag auszuruhen. Wachte er auf, rieb er sich erst mit der linken Hand das linke Auge und dann mit der rechten Hand das rechte Auge, bis aller Schlaf aus ihnen war. Beide Hände wurden dabei zu festen Ballen, die er nach dem Öffnen der Augen gegen die Wand am Kopfende des Bettes streckte. Das geschah alles sehr ausgiebig und genüsslich, bis der Eine sich anspornte: „Jetzt aber los!“
Da schnellten die Fäuste zum entgegen gesetzten Ende des Bettes, und mit ihnen wurde der Oberkörper in die Senkrechte gezogen. Die Fäuste öffneten sich, um die Decke nach links beiseite zu wischen, während eine Drehung des Oberkörpers nach rechts die Beine über den Bettrand schleuderte.
Mit festem Boden unter den Füßen war der Tageslauf kaum noch aus seinem gewohnten Gang zu bringen: Kaffeewasser aufsetzen, Kaffeepulver in die Filtertüte schütten, den Filter auf die Kanne stellen – zwischendurch ins Bad gehen und Zähneputzen – danach zum ersten Mal mit dem inzwischen kochenden Wasser den Kaffee aufgießen. Dann wieder ins Bad: Sich waschen und hinterher gründlich abtrocknen. Nun zum zweiten Mal Wasser in den Kaffeefilter nachgießen, sich anziehen, den Tisch decken, frühstücken.
Anschließend den Tisch wieder abdecken, Becher, Brett und Messer abwaschen und zum Trocknen auf die Spüle legen. Dann mit der einen Hand zur Türklinke, mit der anderen Hand nach dem blauen Kittel greifen. In seiner Werkstatt sich das erste Stück zurechtlegen, das es an diesem Tag zu bearbeiten galt. Und dann: Arbeiten.
Um dieselbe Zeit schlief der Andere gerade ein.
Er war ein Mensch, der schlief, um weiterträumen zu können. Erst wenn die Abendsonne durch das Loch im Verdunklungsrollo einen ihrer Strahlen schickte und mit ihm einen rotgelben Fleck an die Wand malte, mühte der Andere sich, seine Augen zu öffnen. Klappte dabei das linke Auge wieder zu, hüpfte der Fleck nach rechts, öffnete er es, um dafür nun das rechte Auge zu schließen, hüpfte der Fleck nach links. Ping-Pong, Ping-Pong. Dieser Übung widmete der Andere gern einige Zeit. Um aber den Sonnenuntergang nicht zu versäumen, wühlte er sich schließlich aus dem Bettzeug und zog vorsichtig am Rollo. Jedes Mal derselbe Schrecken, wenn sich das Ding selbstständig machte und mit lautem Geratter an seiner Holzstange Saltos schlug. Dann schaute er dem Farbenspiel am Himmel zu, bis es in seinem Zimmer fast wieder vollkommen dunkel war. Im Schein einer gerade noch rechtzeitig entzündeten Kerze kleidete sich der Andere bedächtig an und füllte daraufhin seinen kleinen Ranzen. Derart ausgerüstet, trat er vor die Tür und atmete tief die milde Nachtluft ein. Die stärkte sein Verlangen, seinem Lieblingsbaum entgegen zu schlendern. Dieser Baum diente ihm nämlich bei seinen Mahlzeiten aus dem Ranzen als Rückenlehne. Die aufkommende Brise zauste zwar die Blätter, aber außer einem Rascheln hatte der Baum heute nichts weiter zu erzählen, dafür gluckste und gurgelte der nahe Fluss umso beschwingter. Nachdem der Andere sich reinen Wein eingeschenkt und zuvor vom Brot abgebissen hatte, wurde jedoch seine Aufmerksamkeit von der Tafelmusik des Flusses abgelenkt.
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