Die „unsichtbare Hand“ – oder die Ambivalenz der Pubertät
Im Laufe weniger Jahrhunderte konnte sich das altgewohnte geographische und kosmische Weltbild der Menschheit vom Kopf auf die Füße stellen. Das alte geozentrische Weltbild entsprach ganz dem Lebensgefühl der Kindheit: Das Kind fühlt sich zunächst als Mittelpunkt der Welt, um den sich alles dreht. Das Weltbild des Erwachsenen steht in polarem Gegensatz dazu: Das Leben dreht sich nicht mehr um ihn, sondern er wächst in die Aufgabe hinein, dem Leben zu dienen. Aber dieser Entwicklungsschritt steht bis heute noch aus. Adam Smith (1723–1790) war einer der Väter des modernen Wirtschaftsliberalismus. Er vertrat die Auffassung, der Egoismus der Menschen stelle die wichtigste Triebfeder für den Wohlstand der Nationen dar. Aber dann stellte sich natürlich die Frage, wie aus so viel Egoismus ein halbwegs geordnetes Zusammenleben in der Gesellschaft zustande kommen kann. Adam Smith ging von der Annahme aus, daß eine „unsichtbare Hand“ gewissermaßen über allem schwebend auf geheimnisvolle Weise die vielen Egoismen der Gesellschaft zu einer Harmonie des sozialen und wirtschaftlichen Lebens ordne. Damit schob er gewissermaßen die Verantwortung für ein gerechtes Sozialwesen einer imaginären Instanz zu, die außerhalb der menschlichen Zuständigkeit liegt. In dieser Annahme der „unsichtbaren Hand“ zeigt sich die pubertäre Hilflosigkeit und Ambivalenz, die noch eine übergeordnete Autorität braucht, die die Folgen ihrer Bubenstreiche wieder ausbügelt, weil der junge Mensch zwischen Kindheit und Erwachsenenalter noch nicht in der Lage ist, die volle selbständige Verantwortung für das Leben zu übernehmen. Heute, in der dramatischen Lebenskrise einer verschleppten Pubertät, hat sich das Prinzip des wirtschaftlichen Egoismus völlig verselbständigt und als allgemein anerkannte Überlebensstrategie des sogenannten wirtschaftlichen „Neoliberalismus“ etabliert. Dieser spätpubertäre Egoismus der neoliberalen Wirtschaft unterscheidet sich vom Wirtschaftsegoismus eines Adam Smith dadurch, daß ihn die Frage, wie soziale Gerechtigkeit zustande kommen kann und wer dafür verantwortlich ist, überhaupt nicht mehr interessiert: Egoismus pur, alles ist erlaubt.
Die neue Frage, die das Leben stellt
Damit verlässt die gegenwärtige Entwicklung bereits den Bereich der Krisis, den Bereich der Entscheidung: Sie hat eine Entscheidung getroffen, indem sie ihr aus dem Wege geht und dem Gesetz der Trägheit folgend, einfach den alten Trend in einer weiteren Flucht nach vorne forciert. Damit tritt das Wachstum zum Tode in einen immer schärferen Widerspruch zum Leben. Die große Gefahr liegt dabei in dem Größenwahn, der die Macher der modernen Welt in dieser spätpubertären Phase antreibt in der Einbildung, wir würden uns in einem völlig neuen Zeitalter bewegen, das der Menschheit ungeahnte neue Möglichkeiten zu erschließen vermag. In Wirklichkeit leben wir aber keineswegs in einer „Neuzeit“, sondern am Ende einer alten Zeit. Die Strategen der Globalisierung und der Informationsgesellschaft gehören in ihrer Mentalität noch ganz der alten Zeit an und sind nicht fähig, die neue Frage zu vernehmen, die das Leben heute an uns richtet.
In der Zeit der Kindheit hat das Leben an die Menschen aller Völker die Frage gestellt: „Willst du mit mir spielen, willst du mit mir ringen, mich entdecken und erforschen, willst du deine Kräfte mit mir messen, damit du stark wirst an Körper und Geist?“ Seit urdenklichen Zeiten hat das Leben die Spezies Mensch dazu herausgefordert, die Erde und alles Leben, das sie bevölkert, kennenzulernen, mit ihm zu ringen und an ihm zu wachsen. Heute, an der Schwelle zum Erwachsenwerden, will uns das Leben mit einer Herausforderung ganz anderer Art begegnen. Auge in Auge schaut es uns an und fragt: „Willst du Freundschaft mit mir schließen?“ Das Leben wünscht sich nichts sehnlicher, als daß wir nun endlich als reife, erwachsene Menschen mit ihm zusammenarbeiten, daß wir die alte Mentalität der Kindheit, die Mentalität des Wettbewerbs, des Kampfes, der Macht, des Wachstums und der Maßlosigkeit hinter uns lassen und daß wir nun unsere Erfahrungen, die wir in der Vergangenheit gemacht haben, sortieren: Daß wir aus Liebe zum Leben aussondern, was ihm schadet, und alles weiter entwickeln, was dem Leben des Menschen und der Schöpfung dient. Das Leben lädt uns nun ein, alle unsere Kräfte und Fähigkeiten einzubringen in das große Hauptthema der Schöpfungssymphonie: Die Einigung, Ergänzung und Gemeinschaft allen Lebens. Die ganze Dynamik der Evolution zielt seit Jahrmillionen auf dieses eine große Werk hin, so wie sich der Sproß einer Pflanze unbeirrt durch den gleichförmigen Rhythmus des Wachstums hindurcharbeitet und sich hinaufschiebt, um schließlich der Blüte zum Durchbruch zu verhelfen, jenem neuen Organ, das imstande ist, Wachstum durch Ergänzung zu überwinden. Am Beginn des Erwachsenenalters der Menschheit müssen wir uns klar darüber werden, daß es nichts und niemanden gibt, der unsere heutigen Streiche, unsere Vergehen gegen das Leben, ausbügeln wird. Unser Lebensraum: Die Erde, ein verlorenes Staubkorn im All. Es gibt keine „unsichtbare Hand“, keine beschützende Autorität, die uns vor dem Risiko bewahren könnte, daß das Leben auf dem Planeten, den wir bewohnen und der uns ganz alleine anvertraut ist, scheitern kann. Die Frage, ob wir diese Erde lieben, können wir auch an keine Instanz unserer gegenwärtigen Zivilisation weitergeben; denn diese Instanzen der Wirtschaft, Gesellschaft und Politik stammen aus einer alten Zeit und dienen einer alten Lebensordnung. Wir können von ihnen nicht erwarten, daß sie die neue Frage vernehmen und verstehen, die das Leben heute an uns richtet, und daß sie Maßnahmen ergreifen und Wege eröffnen für das Werden einer neuen Kultur. Die Instanzen der alten Ordnung verwalten das Alte, bis die Zeit kommt, da es erlöschen muß. Nicht mehr Macht und Herrschaft über die Schöpfung, sondern Dienst am Leben von Mensch und Schöpfung, Freundschaft mit allem, was lebt, darin wird künftig die große, faszinierende neue Aufgabe menschlicher Kultur bestehen.
Die Charakterisierung der gegenwärtigen Lebenskrise als „Pubertätskrise“ in der Entwicklung der Menschheitsgeschichte weist darauf hin, daß diese Krise nicht mehr durch einen weiteren Fortschritt technischer, ökonomischer und politischer Maßnahmen, Macht und Programmierung des Lebens überwunden werden kann, sondern allein durch die geistig-seelische und ethische Reifung und Gesundung des einzelnen Menschen. Sie besteht darin, daß in ihm die Ethik der „Ehrfurcht vor dem Leben“ zum Tragen kommt, die ihn zum Dienst am Leben von Mensch und Schöpfung fähig macht. Diese Ethik in sich zu entwickeln und in Freiheit zu verwirklichen, wird der einzelne Mensch bis heute dadurch gehindert, daß er sich in seiner Erziehung und Bildung und in seiner Arbeit den herrschenden Überlebensbedingungen unterwerfen muß, deren Inhalte und Ziele von einer technisch und ökonomisch programmierten Fortschritts-, Wachstums- und Wettbewerbsideologie bestimmt sind. So kann er sein Selbstwertgefühl nicht darin finden, an einer Kulturentwicklung mitzuwirken, die dem Leben von Mensch und Schöpfung dient. Um die gegenwärtige „Pubertätskrise“ der Menschheit zu überwinden, bedarf es neuartiger ganzheitlicher Bildungsmöglichkeiten und entsprechender sozialer Lebensformen, in denen Menschen in freiwilligem Zusammenschluß und in eigener Verantwortung ihr Leben und Arbeiten im Geiste der „Ehrfurcht vor dem Leben“ gestalten können.
Zwei Propheten: Albert Schweitzer und Pierre Teilhard de Chardin
In dunkler Zeit der Krise Wegweisung zu geben aus dem lebendigen Geist der Religion, das ist der Auftrag der Propheten. Religion ist ursprünglich Wegweisung für ein sinnvolles und gelingendes Leben des Menschen. Aber sie neigt dazu, sich im Laufe der Geschichte in rituellen Formen zu verfestigen und in moralischen und dogmatischen Lehrgebäuden zu erstarren. Der Prophet bricht diese Erstarrung auf, legt den Zugang zur ursprünglichen Quelle des lebendigen religiösen Geistes frei und aktualisiert dessen schöpferische und heilende Kraft für das Leben der Gegenwart. In diesem Sinne können die beiden christlichen Theologen Albert Schweitzer und Pierre Teilhard de Chardin als herausragende Propheten unserer Zeit gelten. Dem Weg, den sie in der Auseinandersetzung mit unserer gegenwärtigen Epoche eines welthistorischen Wandels gewiesen haben, ist allerdings innerhalb des Christentums bis heute noch nicht die ihm gebührende Anerkennung zuteil geworden als einem Weg aus der Krise, die heute alle Lebensbereiche erfaßt hat.
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