Aus den Augenwinkeln konnte ich Millies ungläubig-entsetzten Blick erkennen und konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen. Millie wollte mir gerade empört erklären, dass der Junge nicht einfach nur hübsch, sondern viel mehr als das war, als Mr. Fisher ihren Namen rief und sie nach den Hausaufgaben fragte. Prompt lief sie tomatenrot an und zögerte eine Weile. Ich wusste, dass sie auf meine Hilfe wartete, doch Mr. Fisher stand fast direkt vor unserem Platz, also konnte ich nicht wirklich etwas tun. So unauffällig wie möglich schob ich ihr meine Unterlagen zu, sie warf einen Blick darauf und begann stotternd, meine Arbeit vorzutragen.
Mr. Fisher ging währenddessen wieder nach vorne zur Tafel und schrieb etwas an. Als Millie geendet hatte, nickte Mr. Fisher. „Sehr gut“, sagte er, doch statt Millie sah er mir in die Augen. Jetzt wurde auch ich rot.
„Das hast du sehr gut gemacht, Millie“, sagte er. „Oder sollte ich lieber sagen, Amelia?“
Millie blickte verlegen zu Boden und ich verzog entschuldigend mein Gesicht. „Tut mir Leid, Sir“, murmelte ich.
„Muss es nicht, Amelia“, meinte Mr. Fisher. „Das sind ausgezeichnete Hausaufgaben und vermutlich bist du die Einzige, die sie gelöst hat, auch wenn ich meiner Klasse gegenüber keine Vorurteile äußern will.“
Ein Lachen ging durch die Bänke und mir fiel ein Stein vom Herzen. Ich fühlte mich jedes Mal schrecklich, wenn ich Ärger von einem Lehrer bekam, deshalb war ich umso erleichterter, wenn es nicht so war.
„Millie, von dir will ich nächste Woche die Hausaufgaben hören“, sagte Mr. Fisher jetzt und wandte sich wieder der Tafel zu. „Und zwar deine eigenen, klar?“
Millie seufzte leise. „Ja, Mr. Fisher.“
Dann machte Mr. Fisher normal mit seinem Unterricht weiter und Millie und ich tauschten einen unauffälligen Blick. Wir lächelten uns an und mussten dann schnell woanders hinsehen, um nicht loszulachen. Vorsichtig schielte ich für eine Sekunde wieder nach hinten zu dem Jungen, als erwartete ich, dass er nicht mehr da war. Er blickte rasch nach vorne, aber ich hätte schwören können, dass sich unsere Blicke für den Bruchteil einer Sekunde getroffen hatten.
Diese Physikstunde war eine der unruhigsten, die wir je hatten. Selbst Mr. Fisher musste das merken, denn kein einziges Mädchen im Klassenraum schien seinem Unterricht zu folgen. Ständig drehten sich Mädchen um und spähten nach hinten zu dem neuen Mitschüler oder sie unterhielten sich flüsternd, vermutlich auch über ihn.
Ich selbst erwischte mich während dieser Stunde noch zweimal dabei, wie auch ich nach hinten blickte und war froh, dass Millie es nicht merkte.
Als es klingelte, packten alle ihre Sachen zusammen und verließen den Physikraum. Millie trödelte und ich wartete in der Tür auf sie. Ich wusste genau, wieso sie sich Zeit ließ; der Junge hatte den Raum auch noch nicht verlassen.
Als er aufstand und durch die Reihen ging, bestätigte sich meine Vermutung von Samstag, dass er groß und schlank war. Am Samstag war alles so schnell gegangen, dass ich gar nicht mehr darauf hatte achten können.
Als er gerade an Millies Tisch vorbeiging, fielen ihr plötzlich sämtliche Bücher und Hefter, die sie dabei hatte, aus der Hand und landeten zwischen ihr und dem Jungen auf dem Boden. Millie fluchte genervt und machte sich ans Aufsammeln.
„Kann ich dir helfen?“, fragte der Junge höflich und beugte sich zu ihr runter.
„Danke“, sagte Millie und strahlte ihn an.
Ich wusste nicht, ob ich über das Szenario vor mir genervt sein oder einen Lachanfall bekommen sollte.
Schließlich hatte Millie alles wieder auf dem Arm und sie und der Junge erhoben sich gleichzeitig. Millie strahlte nach wie vor und es war offensichtlich, dass sie ein Gespräch anfangen wollte. „Tja danke“, wiederholte sie lächelnd.
„Kein Problem“, murmelte der Junge nur und wandte sich ab.
Jetzt hätte ich tatsächlich am liebsten laut losgelacht, verkniff es mir allerdings, weil der Junge in diesem Moment auf mich zukam und aus dem Raum ging. Im Vorbeigehen streiften unsere Arme sich und unsere Blicke trafen sich erneut. Ich schluckte. Er hatte wirklich die unglaublichsten Augen, die ich je gesehen hatte. Es war nur ein Augenblick, eine Sekunde, in der er an mir vorbei durch die Tür ging, aber mir kam es wie ein endloser Moment vor, indem ich das Gefühl hatte, den Boden unter den Füßen zu verlieren.
Einen Moment lang sah ich ihm nach, wie er den Flur hinunter ging, und für eine Sekunde hatte ich das Bedürfnis, hinter ihm her zu laufen und ihn wegen Samstag zur Rede zu stellen. Doch ich wandte meinen Blick mit Mühe ab und stellte fest, dass Millie direkt neben mir stand und ziemlich verwirrt aussah. Prompt fiel mir wieder ein, wie sie eiskalt stehen gelassen worden war und ich prustete los.
„Das findest du witzig, was?“, fragte Millie beleidigt.
„Ehrlich gesagt, ja“, grinste ich. „Und du findest das ungewohnt, was?“
„Ach, halt die Klappe!“, fauchte sie und trat hinaus auf den Flur.
Kopfschüttelnd folgte ich ihr und wir gingen zu dem Klassenzimmer, in dem wir die nächste Stunde hatten.
„So schnell gebe ich noch nicht auf“, sagte Millie leise, ohne mich anzusehen.
Ich sagte nichts. Natürlich gab Millie noch nicht auf, denn obwohl sie schon mit einigen hübschen Jungen ausgegangen war, hatte sie trotzdem noch nie einen getroffen, der annähernd so gut aussah wie dieser. Wie war noch mal sein Name gewesen? Simon? Irgendwie klang dieser Name ganz fremdartig, da der Junge für mich immer nur der namenlose mysteriöse Fremde gewesen war, der mir auf wundersame Weise mein Leben gerettet hatte und von dem ich nicht geglaubt hatte, ihn noch einmal wieder zu sehen.
Jedenfalls war es eigentlich ganz angenehm gewesen, zu sehen, wie dieser Simon Millie einfach hatte stehen lassen, auch wenn ich das natürlich nie zugeben würde. Die meisten Jungen standen auf Millie und Abfuhren bekam sie so gut wie nie, deshalb hatte sie sich vermutlich mehr von ihrem Auftritt mit den heruntergefallenen Büchern erhofft. Dass es nicht geklappt hatte, freute mich auf seltsame Weise ein bisschen.
Der Schultag verging ziemlich schnell. Ich hatte außer Physik auch noch Englisch und Geschichte mit Simon zusammen, heute war Mathe das einzige Fach, in dem er nicht im selben Klassenzimmer war wie ich. In jeder Stunde, in der er dabei war, konnte ich dem Unterricht nicht so aufmerksam folgen wie üblich und ich war nicht die Einzige; auch weiterhin verhielten sich alle Mädchen auffällig, wenn er in der Nähe war, sie starrten ihm nach, unterhielten sich aufgeregt miteinander oder schmachteten ihn an. In der Mittagspause saß er alleine an einem Esstisch, aber es schien, als würde die gesamte Mensa ihn anstarren. Er musste sich wie ein seltenes Tier im Zoo fühlen.
Ich hätte ihn gerne angesprochen, nicht nur, um ihn nach Samstag zu fragen und ihm zu danken, sondern auch weil ich genau wusste, dass es nicht lange dauern würde, bis ein anderes Mädchen ihn ansprach; ein Junge, der so aussah, war nicht lange alleine. Doch ich konnte es nicht. Ich traute mich nicht und es ergab sich auch keine Gelegenheit.
Als die letzte Stunde vorbei war und es klingelte, ging ich hinaus auf den Parkplatz und wartete an meinem Auto auf Millie. Sie ließ sich wieder einmal Zeit, während die meisten anderen Schüler fröhlich in ihre Autos sprangen und davon fuhren.
Plötzlich entdeckte ich Simon in der Menge, auch er kam auf den Parkplatz zu. Als er auf sein Auto zusteuerte, warf er mir abermals einen Blick zu, wandte ihn jedoch recht schnell wieder von mir ab. Ich sah ihm nach, bis er in sein Auto gestiegen war und aus der Parklücke fuhr. Ich stutzte. Erst jetzt fiel mir auf, dass es sich bei seinem Auto um einen schwarzen Geländewagen handelte wie dem, der mir heute Morgen so rücksichtslos die Vorfahrt genommen hatte.
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