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Vielleicht sind das die ganz normalen Menschen, die hier in Ostberlin ihr bescheidenes Dasein unbemerkt von der Öffentlichkeit meistern. In der DDR war der Tauschhandel fast lukrativer, denn für Geld gabs kaum etwas zu kaufen. Vielleicht hat der Typ gerade irgendetwas gegen Motorenteile getauscht und war nun völlig selig. Da muß doch so ein blöder Wessi auftauchen und ihn aus diesem Flash reißen. Ich erforsche meinen Weg weiter zu einem Hausflur wo kein Lichtquelle anzuknipsen ist. Trotzdem versuche ich die Namen auf den Briefkästen zu entziffern.

Vergebens. In allen Innenhofeingängen dasselbe Trauerspiel, das Treppenhauslicht funktioniert nicht. Ich komme mir vor als mache ich etwas Verbotenes. Ich schaue jetzt einfach mal in jedes Treppenhaus hinein. Die Klingeln funktionieren scheinbar auch nicht, oder es ist keiner da. Ich kapituliere endgültig. Ich gehe zurück zur Straße schaue mich aber noch einmal um. Wäre ich in die andere Richtung, durch ein weiteres Durchfahrtstor durch gegangen, wäre ich zum Stadion der Weltjugend gekommen. Was für ein Name, "Stadion der Weltjugend“. Viel Stadion, aber wenig Welt. Ich hole tief Luft. Und wenn die Straße nun doch richtig ist, und sie wohnt hier irgendwo? Ich frage eine Verkäuferin, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Gemüsestand aufbaut. Was soll ich überhaupt fragen. "Nur da drüben sind normale Wohnhäuser", erzählt sie mir, da bin ich ja eben gewesen. Was mir in der kurzen Zeit in der DDR aufgefallen ist, die Einwohner kennen die ungewöhnlichsten Örtlichkeiten, man kann sie nach Straßennamen am Rande der Stadt fragen. Aber innerhalb einer Straße, oder eines Wohnblocks, weiß mit einem Mal keiner mehr etwas. Alles nur Zufall? Eine zufriedenstellende Antwort erhalte ich jedenfalls nicht. Noch einmal mache ich einen Schlenker in Richtung Toreinfahrt. Den ganzen Tag wollte ich mit der Suche nach Petra nicht verbringen. Ich bleibe etwas nachdenklich stehen und überlege. Noch mal versuchen? Ich gehe also noch einmal in den zweiten Innenhof, schaue noch einmal in den hintersten Eingang des Hofes und in das Dunkel des Treppenhauses. Eine junge Bewohnerin schließt gerade ihren Briefkasten auf. Meine letzte Tat, sage ich zu mir und frage sie ebenfalls nach Petra Nass. "Ja, die wohnt hier", und schaut mich nicht wie ein Gespenst an, sondern ist mir gleich sehr sympathisch. Tatsächlich, jetzt erst lese ich Petra Lass. Mir bleibt fast das Herz stehen, sie wohnt tatsächlich hier. Es ist nicht zu fassen. Welche Eingebung hat mich ausgerechnet noch mal zu diesem Eingang geführt. Eine Woche wohnt Petra erst hier, klar, daß sie hier keiner kennt. Außerdem ist sie gerade erst vor ein paar Minuten aus der Wohnung raus. Ich zieh mir gleich einen Scheitel, das kann doch einfach nicht wahr sein. Glück im Unglück. Ich sage etwas von neunzehn Uhr heute Abend. Sie will es ausrichten. In die Sauna will sie jetzt. Höre ich richtig, „in die Sauna?“ frage ich völlig überrascht. "Gibt es so was auch bei Euch?". Für diese diskriminierende Frage müßte man mich eigentlich schlagen. Sie bemerkt mein verdattertes Gesicht und muß lachen. Wir trennen uns auf der Straße. Sie also zur Sauna. Eigentlich schade, hätte jetzt mit Gesellschaft gut leben können.

Denen geht es hier wohl zu gut, sinniere ich mal wieder etwas überheblich. Ich wundere mich beinahe über mich selbst, daß ich eine Sauna in der DDR nicht für möglich gehalten habe. Wie da wohl die Stasi abgehört und beobachtet hat? Die scheinen hier echt einen 7. Sinn für Namensverwechslungen zu haben, fällt mir gerade Petras Mitbewohnerin wieder ein. Ich frage nach Schamhoffstraße und jeder weiß bescheid, ich frage nach Petra Nass und ihre Nachbarin weiß auch sofort wen ich meine. Ich hau nochmals den Rückwärtsgang rein, vorsichtshalber mache ich noch einen Zettel an Petras Tür. Von der Scharnhorststraße zu Petras Hauseingang sind es zwei Unterführungen, denn sie wohnt am anderen Ende. Dort wo dann die 3. Toreinfahrt zu dem besagten Weltfußballstadion führt, oder was auch immer das da war. Petra wohnt im 3.Stock. An den Treppenhauswänden blättert die Farbe ab, und legt sich auf die knatschenden Holzstufen der Treppe, vermodert riecht es hier. Hier gibt scheinbar keine Aufteilungslisten, wer wann das Treppenhaus zu putzen hat. Ich bin im 3.Stock, Petras Klingel ist auch im Eimer. Werde ich heute Abend klopfen müssen. Die Nachricht muß sein, immerhin riskiere ich heute Abend noch einen Trip in diesen Uraltbunker. Beswingt bewege ich mich wieder der City zu. Alles, was mir vorhin bei meiner Busfahrt vorbeihuschte liegt jetzt vor mir und ich kann mit meinen erstaunten Augen alles in Richtung Innenstadt begutachten. Ich ertappe mich immer bei den gleichen Worten, kann meine Freude über dieses lebendige Schauspiel vor mir auf den Straßen kaum bändigen. Wie konnte sich das alles nur so erhalten? Ich schaue auf Bordsteinkanten, auf alles, nur um alles im Gedächtnis für die Ewigkeit einzufrieren. Viele kleine urige Buchläden, Tabakläden mit den wichtigsten, aber einfachen Utensilien, die ein Raucher benötigt. Elektroartikel in einem Schaufenster, alles wie in einem Diorama-Set einer Modelleisenbahn aus vergangenen Zeiten. Ein Fotoladen, Spielzeuge in einer Auslage, die seit 30 Jahren nie geändert wurde. Alles niedliche Geschäftchen. Ich bewege mich nicht zurück in die Zukunft, sondern vorwärts in die Vergangenheit. Würde das doch nie zu Ende gehen. Allerdings, dieses Treibstoffgemisch der Zweitakter macht mir doch ziemlich zu schaffen. Schon abgedreht, da träumt man zu Hause von der guten alten Zeit und hier erblüht sie direkt vor meinen Augen. Wie verblendet sehe ich nur die schönen Seiten, dabei war es damals bestimmt genausowenig ein Zuckerschlecken. Ich habe früher sehr gerne Charles Dickens gelesen, er hat die sozial Schwächsten der viktorianischen Epoche in England trivial aber sehr einfühlsam dargestellt. „The Old Curiosity Shop - Der Antiquitätenladen“ war eines meiner liebsten Bücher. Ich kann hinschauen wohin ich will, hier finde ich genau die Kulisse für so einen Film.

Die Luft ist dick, ich kann keine hundert Meter schauen. An den Mietshäusern sind die Fassaden so angegriffen, große Flächen vom Putz sind freigelegt, daß selbst die dahinterliegenden roten Backsteine sich lösen. Ich schaffe es über die Tucholskystraße bis zu Schönhauser Allee. Ich erblicke aber auch viele, teils wunderschöne Altbaufassaden. Verrenke mir fast den Hals beim Hochschauen dieser historischen Gemäuer. Völlig der Welt und der Zeit entrückt bin ich plötzlich in der berühmten Schönhauser Allee gelandet. Wie habe ich mich nur hier hin verirrt? Hier wirkt alles verschlafen. Was mögen sich für Lebensgeschichten hinter den grauen Fassaden dieser Altbauwohnungen abgespielt haben in den letzten Jahrzehnten? Einige Menschen leben hier vielleicht seit dem 2.Weltkrieg. Die letzten 40Jahre sind hier einfach vorüber gegangen. Ich kann mir vorstellen, daß hier 40 Jahre ein Dornröschenschlaf stattgefunden hat. Hier ist alles so geblieben, nichts hat sich verändert. Ob hier einer nach dem tieferen Sinn seines Leben gefragt hat, oder einfach nur sein Leben gelebt hat? Und dabei sind es genau so Menschen wie ich. Das ist Berliner Leben, wie es wohl ehrlicher nicht sein kann. Traumhafte Hinterhofmilieus in diesem alten Berlin meiner momentanen Zeitreise. Für Filme wie Tadelöser & Wolff könnte das Straßen- und Hinterhofmilieu hier hergehalten haben. U-Bahn steht für Untergrundbahn, die fährt hier aber oben während die S-Bahn unter der Straße entlang donnert. Hier geht wohl alles drunter und drüber. Aber das kenne ich ja auch von den Landungsbrücken in Hamburg nicht anders. Die Schönhauser mieft noch richtig den alten Charme, den ich einfach liebe. Früher konnte man hier wohl „schön hausen“, zumal eine Allee ja auch immer etwas hochwertigere Wohnkultur assoziiert. Es ist aber laut und schmutzig. Mehr oder weniger vom Ruß und Qualm der 2-Takter verdreckt. Ich schweife mit meinen Gedanken zu dem stimmungsvollen alten Berliner Milieu Otto Nagels, einer Sehnsucht nach dem bunten, aber bitterarmen Volksleben dieser Zeit. Wechselnde Anstriche, abbröckelnder Putz, alte Leuchtschriften und Plakate bepflastern das urige Szenario. Hausflure, die ich betrete, erforsche ich wie bei einer Höhlenwanderung. Auf jeder Etage ein Gemeinschaftsklo, also immer der Nase nach. Düstere Mietskasernen, so wirkt es von außen. Innen sind es vielleicht wunderschöne, große Kaufmannswohnungen mit hohen Stuckdecken. Mein Gott, jetzt habe ich aber auch richtig Hunger bekommen. Ich genehmige mir eine Wurst aus einer Wurstbude. Das ist ein Fehler, mir wird plötzlich kotz-übel. Zusammen mit dem Gestank der Zweitakter scheint das eine unheilvolle Mischung zu ergeben. Jede Hofeinfahrt, jede offene Haustür nutze ich zur Flucht von der Straßenverschmutzung hoffe auf einigermaßen frische Luft in diesen Häuserfluchten und überbrücke so meine Übelkeitsphasen. Doch das reicht nicht, ich brauche dringend frische Luft. Zwei hübsche Blondinen frage ich nach Grünflächen. Bescheuerte Anmache, denken die bestimmt. "Hier gibts nur Beton", ist ihre knappe Antwort und lächeln mich dabei verschmitzt an. Neben all dem Beton gibt es glücklicherweise noch ein paar menschliche Wesen, denke ich. Ich schaue mich in Richtung Alex und Fernsehturm noch ein wenig nach Flächen abseits der Straßen um. Am liebsten würde ich hier noch länger verweilen. Aber meine Atmung versagt und mit meiner Übelkeit ist es auch nicht zum Besten bestellt. Möchte jetzt nicht unbedingt auf offener Straße Kotzen müssen. Endlich am Alex angekommen kann ich endlich wieder etwas tiefer durchatmen. Was soll ich zu der Berliner Luft sagen. Mir fällt sogleich nur dieses eine Lied dazu ein:
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