Wir hatten einen kurzen Herbst. Die Zeit verging schnell und es war vor dem Winter unglaublich viel zu tun. Meine Mutter und ich streiften durch die Steppe und sammelten in großen Körben trockenen Dung, den ich hinter unserer Jurte zu einem Haufen aufschichtete. Dann schnitten wir große Mengen von Heu, das ich mit Wollschnüren bündelte. Das trockene Gras würde wahrscheinlich nicht ausreichen, um unsere Herden über den unbarmherzigen Winter zu bringen, aber es war alles, was wir tun konnten. Das Heu hatte noch in keinem Winter gereicht. Was die Tiere umbrachte, war nicht die fehlende Nahrung, die sie gefroren unter dem tiefen Schnee finden konnten, sondern die brutale Kälte, die ihre Kräfte aufzehrte. Und keine noch so große Menge Heu half gegen die Kälte. Wir hatten einen heißen und trockenen Sommer und die Pferde und Yaks waren gut genährt. Viele würden die Kälte überleben. Ich baute aus den Scherengittern und Dachstangen von Kökschus Jurte einen Pferch für die Tiere, um sie durch ihre Körperwärme gegen die Kälte zu schützen.
Ich schlug Airag, bis mir die Schultern schmerzten, und deponierte die Ziegenschläuche hinter unserem Zelt, wo sie über Nacht einfroren. Zwei Wochen später war es so kalt, dass weder das gelagerte Murmeltier- und Hammelfleisch noch unsere Airagvorräte wieder auftauten. Das würde bis zur Schneeschmelze so bleiben.
Ich war traurig, dass ich Mukali dann erst wiedersah. Falls überhaupt. Meine Mutter hatte ihm kein Versprechen gegeben.
Achtzehn Tage vor Tsagaan Sar, in der kältesten Nacht des Winters, gebar meine Mutter Dschamugas Sohn. Kein Schamane stand ihr während der schweren Geburt bei und so brachte ich das Kind in die Welt. Kein Schamane fand einen Namen für den Kleinen. Sie nannte ihn meinen Bruder .
Ich war eifersüchtig auf ihn, weil ich keinen Platz mehr an den Brüsten meiner Mutter hatte. Er trank alles, was sie ihm zu geben hatte. Und selbst das reichte ihm nicht. In einigen Nächten schickte mich meine Mutter in die eisige Dunkelheit, um die Ziegen zu melken. Die warme Milch füllte ich dann in einen Topf, um sie abzukochen und meinem Bruder mit einem kleinen Löffel einzuflössen. Manchmal war meine Mutter trotz seines Geschreis so müde, dass sie bereits wieder eingeschlafen war, als ich in die Jurte zurückkam.
Mein Bruder war unausstehlich, wenn er hungrig war. Und er war immer hungrig. Wenn ich ihm den Löffel mit der warmen Ziegenmilch hinhielt, drehte er unwillig den Kopf weg oder stieß den Löffel von sich, sodass die Milch verschüttet wurde.
Meine Mutter wurde immer schwächer. In einigen Nächten wurde sie nicht einmal durch das Geschrei geweckt. Zwei Nächte später ging es ihr so schlecht, dass ich ohne zu zögern Kökschus Vorräte an Heilkräutern zu durchsuchen begann. Ich hatte darauf bestanden, seine Kisten mitzunehmen, als wir ins Herbstlager gezogen waren. Unmengen von kleinen Dosen stapelten sich in einer großen Holztruhe. Ich öffnete jedes dieser Gefäße und roch am Inhalt. Einige der Düfte erinnerten mich an Sommerblumen und Gräser, andere kannte ich nicht.
Ich erinnerte mich an den Teebeutel, in dem Kökschu den Tee für unsere gemeinsamen Himmelsreisen aufbewahrte. Tatsächlich fand ich den Beutel zwischen den Küchengeräten, die er zurückgelassen hatte. Aus dem Pulver bereitete ich meiner Mutter einen Tsaj, den sie nur widerwillig trank. Er stank wie ein verwesender Yak. Der Tee schien aber zu wirken, denn ihr Gesicht entspannte sich, als ob Mukali auf ihr lag, und sie schlief für zwei Tage und drei Nächte.
Am Tag vor Tsagaan Sar konnte sie wieder aufstehen. Sie wusste, dass ich Kökschus Kräuter benutzt hatte, und dass ich entgegen ihrem Verbot beim Schamanen die Heilkunde erlernt hatte, aber sie hat mich nie darauf angesprochen.
Am Vorabend des Neujahrsfestes lud sich Toda Beki selbst in unsere Jurte ein. Er schleppte Jesutai hinter sich her wie eine Stute ihr Fohlen. »Ich bin gekommen, um meinen Sohn zu sehen.«
Mein Bruder war an dem Wiegenbrett festgebunden, das neben dem Herdfeuer vom Scherengitter hing. Toda sah meinem Bruder in das kleine, vom Schreien verkniffene Gesicht. »Das ist nicht mein Sohn!«, sagte er.
»Nein«, bestätigte meine Mutter.
»Wer ist der Vater? Mukali?«, fragte Toda.
»Nein. Nicht Mukali.«
Toda dachte nach. Dann fiel ihm ein, wer kurz vor dem Frühlingsfest meine Mutter besucht hatte. »Dschamuga?« Er wartete ihre Antwort nicht ab. »Tenger stehe uns allen bei, wenn das der Khan erfährt!«
»Wenn er was erfährt, Toda?«
»Dass Dschamuga seinen Samen in eine Kiyat verspritzt hat.«
» Ich werde es ihm nicht erzählen«, meinte meine Mutter ruhig.
Ich habe nie herausgefunden, wer dem Khan von Dschamugas Sohn im Kiyat-Klan erzählt hatte. Dschingis Khan soll sich den Bericht ruhig bis zu Ende angehört haben, das hat mir Bogurtschi später erzählt. Der Khan habe auch nicht nach dem Namen der Mutter oder dem meines Bruders gefragt. Ohne von seiner Tätigkeit hochzublicken – er hatte gerade seinen Sattel geflickt – habe er die Anweisung gegeben, meinen Bruder zu töten.
Die Krieger des Khan trafen in den frühen Morgenstunden in unserem Ordu ein. Ich war gerade gegangen, um nach den Pferden zu sehen , als ich zwei Männer in unsere Jurte eindringen hörte. Zwei weitere waren nicht einmal abgestiegen und warteten mit den Pferden vor unserem Zelt. Es war dunkel und ich warf mich auf den verschneiten Boden, damit ich nicht entdeckt wurde. Ich trug eine Dacha aus hellgrauem Wolfspelz und war so im Schnee nicht zu erkennen. Mein Bruder begann zu schreien, als würde er lebendig aufgespießt werden, dann rief meine Mutter etwas, was ich nicht verstehen konnte.
Als die beiden Krieger die Jurte verließen, war es still im Zelt. Mein Bruder schrie nicht mehr. Nie mehr.
Dann verschwanden die Krieger des Khan wie sie gekommen waren. Meine Mutter und ich begruben den kleinen Leichnam auf der Pferdeweide, damit er nicht als Geist über die verschneite Steppe irrte. Ich hatte ein kleines Loch ausgehoben, was im vereisten Boden sehr mühsam war. Ich grub nicht sehr tief, gerade tief genug, um meinen Bruder der Mutter Erde zurückzugeben und Erde und Schnee über dem Loch aufzutürmen. Dann trieb ich unsere Herde über das Grab, um den Grabhügel unkenntlich zu machen.
Mein Bruder ruhte in Frieden. Meine Mutter nicht. Sie begann den Khan zu verfluchen.
Wenn Dschamuga von der Geburt und der Hinrichtung seines Sohnes überhaupt erfahren hatte, so ließ er es uns zumindest nicht wissen. Auch an sein Versprechen, meine Mutter zu sich zu holen, um sie zu heiraten, erinnerte er sich nicht.
Sie war so verbittert über den Erzeuger und den Vernichter ihres Sohnes, dass sie selbst Mukali bei seinem Besuch kurz vor dem Frühlingsfest einen Schlafplatz außerhalb unserer Jurte zuwies.
»Was ist mit ihr los, Temur? Deine Mutter ist sehr verändert, seit ich euch im Herbst verließ.«
Ich antwortete nicht und half Mukali, seine Schlafmatte neben unserer Jurte auszurollen.
»Hast du auch die Sprache verloren, Temur?«, bohrte er nach.
»Nein, Mukali. Sie hat mir verboten, mit Euch darüber zu sprechen.«
»Worüber?«
»Das darf ich Euch nicht sagen.« Niemand außer meiner Mutter und mir wusste, was in jener Nacht geschehen war. Toda und den anderen hatten wir gesagt, dass mein Bruder plötzlich in der Nacht gestorben war. Einen letzten Schrei habe er getan und dann seine kleine Seele ausgeatmet. Niemand hatte Fragen gestellt, denn im Winter starben oft die Kleinsten.
»Als ich euch verließ, war deine Mutter schwanger.«
Ich antwortete nicht.
Mukali nickte, als er sich die nicht gestellte Frage selbst beantwortete. »Wann wurde das Kind geboren?«
»Kurz vor Neujahr«, murmelte ich möglichst unverständlich.
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